Tango
in Paris und Berlin>
Tangoseite in goest ( Milongatermine, Locations, ..)
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der Region Lesebericht
/ Günter Schäfer Buch: Tango
in Paris und Berlin Eine transnationale Geschichte der Metropolenkultur
um 1900 Kerstin Lange, Vandenhoek&Ruprecht, Göttingen 2015 >Verlagsinformationen 1.7.16
/ Vorab kurz und knapp: Ich war begeistert von dem Buch (vom Preis / 60 €
etwas weniger). Das Material, das die Historikerin Kerstin Lange zusammengetragen
hat, erlaubt mehr Fragestellungen,als die Autorin in ihrer Dissertation aufgrund
des Umfanges verfolgen konnte. Sie konzentrierte sich darauf nachzuweisen, wie
komplex und vielfältig die Faktoren sind, die den Übergang des Tangos
nach Europa beeinflußt haben. Wie die Überlegungen am Ende dieser Rezension
zeigen, lässt sich quasi als Sekundäranalyse, auch ein Fokus auf die
durchgehenden Dichotomien arm/reich, wild / kontrolliert, frei / reglementiert
legen, oder lassen sich die klassenspezifischen Aspekte in der Geschichte des
Tangos ins Zentrum der Betrachtung rücken. Auch dazu gibt das Buch jede Menge
Material. Beispiel für die Detailliertheit ist die Auswertung zeitgenössischer
Zeitschriften aus dem Paris vor hundert Jahren. Im Abschnitt über den Tango
in Paris zitiert die Autorin allerdings umfänglich französischsprachige
Quellen ohne Übersetzung. Einwanderungskultur
in Argentinien / Musikstile mischen sich in B.A. zu etwas Neuem Zunächst
umreisst das Buch den Schmelztigel aus dem der Tango hervorging: Argentinien wies
in der Zeit des Entstehens des Tango ein enormes Bevölkerungswachstum auf:
von 1869 = 1,8 Millionen stieg es auf über 8 Millionen im Jahr 1914. Im selben
Zeitraum wuchs Buenos Aires von 180.000 auf über 2 Millionen. Das
Bevölkerungsgemisch bestand u.a. aus: den Einwanderern (Gringos); die blieben
zu 50 % in Buenos Aires, den Einheimischen, Criollos (aus den argentinischen Provinzen),
Gauchos (in Berlin nannte man sie 1915 "argentinische Cowboys" ) Die
Einwanderer aus Italien bildeten den größten Anteil mit 1 Million ,
Spanien, Großbritannien, Frankreich, der Schweiz und Deutschland, ca. 1000
osteuropäische Juden meist Russland. Musik:
Ebenso gemischt waren die Einflüsse der Musik. Am Stadtrand
von B.A. in den Kneipen kamen Gitarre, Violine und Flöte zum Einsatz – Einwanderer
brachten Polka, Mazurka, Habanera, und Tango Andaluz ein. Dazu kamen Stile der
schwarzen Bevölkerung von B.A. und argentinische ländliche Traditionen.
Als Paartanz entwickelte sich der Tango aus einer freien Kombination dieser Stile
mit viel Freiheit für Improvisation Klassenspezifik:
Der Tango wurde von den Oberschichten in B.A. nicht beachtet; er wurde gleichgesetzt
mit sozialer Unterschicht, Subkultur, Armut, Prostitution und Kriminalität.
Argentinien war im Aufschwung – es gab eine reiche Oberschicht, die sich in
B.A. von dieser Szene distanzierte. Dennoch rückte der Tango um 1900 ins
Zentrum von BA vor. Paris Die
Beschreibung des Übergangs von Buenos Aires nach Paris ist in ihrer Differenziertheit
und Klarheit faszinierend. Bei der Weltausstellung 1889 in Paris öffnete
sich die Stadt der Welt. Sie wurde zum Sammelpunkt aller Kulturen. Paris
hatte damals ca 2, 8 Milionen Einwohner. Auch Paris war, wie B.A. eine Einwanderungsstadt,
viele Einwanderer kamen aus den inländischen Provinzen. Etwa 8% kamen aus
dem Ausland, meist aus Italien, Russland, Polen darunter viele osteuropäische
Juden. Als
Faktoren, die eine Einführung des Tangos in Paris beeinflussten, beschreibt
Kerstin Lange u.a.: --- Medienentwicklung, die die Freizeitangebote bekannt
machten (Tages-Zeitungsgründungen 1863, 1883), Kulturzeitungen. Um 1900 konnte
sich eine Geschäftsmann in Kairo über die Mode in Paris oder das Programm
der dortigen Oper informieren --- mehr Freizeit, keine Sonntagsarbeit, vom
12 Stundentag zum 10 Stundentag --- Entstehung von Varietétheater, Pantomime,
Puppenspiel, Zirkus, einfache Tanzlokale, entlang des Rings der Stadtmauer an
Boulevards und im Dorf Montmatre als Vergnügungsviertel mit proletarischer
Bevölkerung und zugezogenen Künstlern --- Proletarische und kleinbürgerliche
Stadtteile im Nordosten mit bescheideneren Sälen Das
Herüberschwappen des Tangos aus dem verrufenen Stadtrand von B.A. wurde von
reichen argentinischen Emporkömmlingen, von denen es durch den Aufschwung
Argentiniens viele in Paris gab, mit Nasenrümpfen beobachtet. Auch hier distanzierte
man sich und sah gar den Ruf Argentiniens dadurch geschädigt. Ebenfalls ablehnend
verhielt sich ein Teil der Tanzlehrer bzw. Vertreter der Tanzschulen, die meinten,
man könne diesen Tanz keinesfalls in dieser Form sich verbreiten lassen;
es sei ein Verfall der Kultur. Hinein mischten sich nationalistische und rassistische
Töne, sowie verächtliche Distanzierung von einer angeblich "niederen
Kultur niederer Schichten". Die ausgelassene Form des Tango wurde als
"Apachentanz" bezeichnet, als Tanz der Wilden, Unzivilisierten, die
sich zudem auch noch in den Vierteln der Unterprivilegieten oder in verrufenen
Amüsiervierteln (Montmatre) konzentrierten. Dabei zeigt die Autorin detailliert
die Gründe für die Lokalisierungen in den jeweiligen Vierteln auf. Sie
beschreibt die Entstehung feinerer Lokale und weiß dabei darüber zu
berichten wieviele Personen dort Platz fanden, wie die Ausstattung und die Preise
waren. Dem Streit zwischen Befürwortern und Gegnern des Tango, der sogar
die höchsten politischen Spitzen beschäftigte, widmet die Autorin ausführliche
Beschreibungen. Die Ablehnung des Tangos in der politisch führenden Oberschicht
nährte sich u.a. durch die Erinnerung an die Aufstände, zuletzt der
Pariser Commune. Sie weckte in der Oberschicht die Angst vor einer Bevölkerungsmasse,
die in Bewegung kommt. Die Tangoveranstaltungen zeigten vorsichtigerweise
zunächst den Tango vor allem auf der Bühne und während der Karneval-Maskenbälle
in der Wintersaison. Da sich der Tango aber mit einer derartigen Wucht
verbreitete, war er nicht mehr zu begrenzen und schon gar nicht aufzuhalten. Eine
stärker werdende Fraktion sprach sich daher für eine Assimilierung aus.
Der Tango sollte "französisiert" werden. Dafür setzte man
sich an höchster politischer Stelle, nämlich der Académie française
ein. Es wurden in der Folge neue Tanzschritte entworfen und eine Verfeinerung
angestrebt. So entstand
der Salontango. An den Boulevards gab es bald große "cafés-concerts",
die Oper und Theater Konkurrenz machten. Z.B. die Scala mit 350 qm für
mehr als 1500 Gäste. Der obligatorische Getränkepreis betrug allerdings
so viel, wie das Tageseinkommen eines Arbeiters. Berlin Wackeln
und Schieben verboten Der Abwehrkampf gegen den Tango sah in Berlin
etwas rigider aus. Hier machte man sich nicht die Mühe, eine Verfeinerung
des Tangos zu entwickeln. Man subsumierte den Tango pauschal unter die "neumodischen
Tänze" des ragtime, onestep und twostep. Dann wurde alles als "Untergang
der Kultur" beschworen und als "Wackel- und Schiebertänze"
in eine Schublade gesteckt. Der
Tanzlehrerverband ging gegen Tango und gegen Schiebertänze vor, ja es wurde
sogar erreicht, dass in den Tanzlokalen Schilder aufgehängt werden mußten
mit der Aufschrift: "Schieben und Wackeln verboten!" Es
war ein Kampf gegen die Tanzkultur der Unterschichten, gegen Schiebertänze
in den Vororten Berlins. Statt wie in Frankreich den Tanz zu integrieren, versuchten
sie es mit Ignorieren, Diffamieren, Verdrängen und Verboten. DieserKampf
gab vor gegen die Unsittlichkeit des Tanzes und den Verfall von Moral und Sitten
vorzugehen. Das folgende steht zwar nicht im Buch, lässt sich aber aus den
Darstellungen mutmaßend ableiten: Der Umgang mit den freien Tänzen
(one-step, two-step, schieber, ragtime, tango) war von autoritär-preussischer
Art geprägt, die sich von erotischer und sexueller Freiheit bedroht fühlte. Politische
Kritik an der Übernahme französischer Moden, hatte auch Spannungen zwischen
Deutschland und Frankreich zum Hintergrund (Anmerkung: Gleichzeitig versuchte
Bismarck Frankreich zu isolieren, weil er nach dessen Niederlage im Krieg 1870/71
Revanche Frankreichs fürchtete. Daher war ein allzugroßer kultureller
Einfluß aus Paris nicht gewünscht.) Deshalb hieß es: Man
müsse nicht alles übernehmen "was den Passierschein in Paris
erhalten habe". Mit
dem 1. Weltkrieg 1914 – 1918 stoppte dann der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich
einen weiteren Kulturtransfer. Und
nach dem Buch? Am
Ende des Buches hofft man, dass es eine Fortsetzung gibt, und die Veränderungen
nach 1945 bis heute in gleicher Differenziertheit dargelegt werden. Allerdings
kann das vorliegende Analysemuster der Arbeit zur Betrachtung auch der späteren
Zeit herangezogen werden. Im
Folgenden der Versuch ein sichtbar gewordenes durchgängiges Spannungsverhältnis
zu betrachten, das augenscheinlich bis heute reicht. Die
Spaltung des Tango in seinem wilden Ursprung einerseits und die europäische
"Verfeinerung", Assimilierung, nationale Anpassung andererseits, wirkt
m.E. bis heute fort. Der
Film >>Easy
Virtue, ("Eine unmoralische Frau") eine britische Filmkomödie
aus dem Jahr 2008 enthält eine Tango-Szene (mit oberflächlich einstudierten
Tangoschritten). Dabei wird anschaulich dargestellt, wie Tango als verruchte Angelegenheit
den Umstehenden den Atem stocken lässt, aber hinter ihrem Entsetzen schon
die Begeisterung an der Lust hervorblitzt. Die
Tanzschulen nahmen notgedrungen irgendwann Tango ins Programm, entwickelten ihn
jedoch wie die anderen Standardtänze als eine streng geregelte Schrittfolge. Der
klassische Tango der Tanzschulen, wie bei >>Tanzwettbewerben
auch 2007 noch zu sehen, ist kaum mehr als der ursprüngliche Tango zu erkennen.
Er zeigt mehr Ähnlichkeit mit dem Walzer und die ruckartigen Kopfbewegungen
zeigen eine Pseudoleidenschaft, die nichts mit Tango zu tun hat und auf traurige
Weise Null Corazon enthält.
Tango Argentino verbreitet sich in Deutschland mindestens seit 1980 zunächst
völlig außerhalb der Tanzschulen, in seiner neuen Form mit Betonung
auf "Argentino". In der Folge binden freie Tangolehrer*innen so viele
Tanzbegeisterte, dass einige Tanzschulen über eine Modifikation des bis dahin
"preussischen" Tangoverschnitts nachdenken, aber nirgendwo die freie
Interpretation fördern, sondern Regeln, Schritte, Figuren lehren. 2016
- Hundert Jahre nach der Tangomania in Paris und Berlin wird auf der Seite tanzen.de,
einer Vereinigung von 750 deutschen Tanzschulen jedoch stolz behauptet, Berlin
sei nach Buenos Aires die 2te Hauptstadt des Tangos. Die Geschichte der dauerhaften
Ablehnung durch die Tanzschulen ist vergessen. Weil
der Tango der herkömmlichen Tanzschulen in Regelhaftigkeit erstarrt war,
konnte das Aufleben des Tango Argentino in einer selbständigen Tango-Szene
starken Einfluß gewinnen. Allerdings ist mit dieser Neuentwicklung des emotional
intensiveren und freieren Tango Argentino nicht die Linie beendet, die von Anfang
an die Geschichte des Tango begleitete: die Ausgrenzung der Wildheit einerseits,
und tatsächlich auch die Grenzziehung zu ärmeren, als "weniger
kultiviert" angesehenen Bevölkerungsschichten. Um nur ein einziges
Beispiel von mehreren zu beschreiben: Wie ich durch einen Bericht einer unmittelbar
Beteiligten erfahren habe, hatten Tangoveranstalter in einem Frankfurter Café
den Wunsch geäußert, zukünftig nur noch Teilnehmer*innen mit höherer
Bildung aufzunehmen. Die Café-Betreiber/in des philosphisch, politisch
kritischen Cafés hat dies verhindert, indem sie diese Tangogruppe vor die
Tür setzte.
Um
Ausgrenzungen zu vermeiden, ist zunächst besonders wirksam, die Veranstaltungen
kostenlos oder mit niedrigen Eintritts- und Getränkepreisen durchzuführen.
Hierzu beizutragen können in Göttingen kostenlose
OpenAir-Milongas z.B. an der Paulinerkirche, der flashmobähnliche "Tatorttango"
an wechselnden Locations , aber auch die niedrig-preisige Milonga im Hdk und die
Unterstützung der soziokulturellen Zentren wie KAZ und Musa.
Dies
alles widerspricht jedoch keinesfalls dem Interesse an einer ästhetischen
Weiterentwicklung des Tangos in Workshops. Dies kann allerdings auch anderweitig
erfolgen, indem sich z.B gegenseitig Schritte beigebracht werden und kreativ eigene
neue Improvisationen entwickelt werden. Natürlich sollen auch die Verfeinerungen
und Zurückhaltungen im Salontango
nach Belieben überall übernommen werden können und nicht per se
als Ausgrenzung wilderer Formen interpretiert werden. Jede ästhetische Entwicklung
kann ein Gewinn sein. Wer könnte etwas gegen die Weiterentwicklung der Musik
durch Piazzolla, das Pariser Gotanprojekt oder neue Tanzformen des Tango Nuevo
haben. Man schaue sich nur die entsprechenden Tangovideos an: a)
Oblivion von Piazzolla ) b) Tango
Nuevo ) . Piazzolla wurd anfangs als Verräter der ursprünglichen
argentischen Tangokultur beschimpft und ist inzwischen hochverehrt. Eine Verteidigung
des ursprünglichen Tango, wie sie Piazzolla in der Anfangszeit gegen sich
gerichtet erfahren mußte, ist genauso unproduktiv, wie die naserümpfende
Ablehnung der "wilden Formen". zum
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