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Tango in Paris und Berlin

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Lesebericht / Günter Schäfer

Buch:
Tango in Paris und Berlin
Eine transnationale Geschichte der Metropolenkultur um 1900
Kerstin Lange, Vandenhoek&Ruprecht, Göttingen 2015
>Verlagsinformationen

1.7.2016 / (minimale Korrekturen 28.3.24)
Vorab kurz und knapp: Ich war begeistert von dem Buch (vom Preis / 60 € etwas weniger). Das Material, das die Historikerin Kerstin Lange zusammengetragen hat, erlaubt mehr Fragestellungen,als die Autorin in ihrer Dissertation aufgrund des Umfanges verfolgen konnte. Sie konzentrierte sich darauf nachzuweisen, wie komplex und vielfältig die Faktoren sind, die den Übergang des Tangos nach Europa beeinflußt haben. Wie die Überlegungen am Ende dieser Rezension zeigen, lässt sich quasi als Sekundäranalyse, auch ein Fokus auf die durchgehenden Dichotomien arm/reich, wild / kontrolliert, frei / reglementiert legen, oder lassen sich die klassenspezifischen Aspekte in der Geschichte des Tangos ins Zentrum der Betrachtung rücken. Auch dazu gibt das Buch jede Menge Material.
Beispiel für die Detailliertheit ist die Auswertung zeitgenössischer Zeitschriften aus dem Paris vor hundert Jahren. Im Abschnitt über den Tango in Paris zitiert die Autorin allerdings umfänglich französischsprachige Quellen ohne Übersetzung.

Einwanderungskultur in Argentinien / Musikstile mischen sich in B.A. zu etwas Neuem

Zunächst umreisst das Buch den Schmelztigel aus dem der Tango hervorging: Argentinien wies in der Zeit des Entstehens des Tango ein enormes Bevölkerungswachstum auf: von 1869 = 1,8 Millionen stieg es auf über 8 Millionen im Jahr 1914. Im selben Zeitraum wuchs Buenos Aires von 180.000 auf über 2 Millionen. Das Bevölkerungsgemisch bestand u.a. aus: den Einwanderern (Gringos); die blieben zu 50 % in Buenos Aires, den Einheimischen, Criollos (aus den argentinischen Provinzen), Gauchos (in Berlin nannte man sie 1915 "argentinische Cowboys" )
Die Einwanderer aus Italien bildeten den größten Anteil mit 1 Million , Spanien, Großbritannien, Frankreich, der Schweiz und Deutschland, ca. 1000 osteuropäische Juden meist Russland.

Musik: Ebenso gemischt waren die Einflüsse der Musik. Am Stadtrand von B.A. in den Kneipen kamen Gitarre, Violine und Flöte zum Einsatz – Einwanderer brachten Polka, Mazurka, Habanera, und Tango Andaluz ein. Dazu kamen Stile der schwarzen Bevölkerung von B.A. und argentinische ländliche Traditionen. Als Paartanz entwickelte sich der Tango aus einer freien Kombination dieser Stile mit viel Freiheit für Improvisation

Klassenspezifik: Der Tango wurde von den Oberschichten in B.A. nicht beachtet; er wurde gleichgesetzt mit sozialer Unterschicht, Subkultur, Armut, Prostitution und Kriminalität.
Argentinien war im Aufschwung – es gab eine reiche Oberschicht, die sich in B.A. von dieser Szene distanzierte. Dennoch rückte der Tango um 1900 ins Zentrum von BA vor.

Paris

Die Beschreibung des Übergangs von Buenos Aires nach Paris ist in ihrer Differenziertheit und Klarheit faszinierend.
Bei der Weltausstellung 1889 in Paris öffnete sich die Stadt der Welt. Sie wurde zum Sammelpunkt aller Kulturen.
Paris hatte damals ca 2, 8 Milionen Einwohner. Auch Paris war, wie B.A. eine Einwanderungsstadt, viele Einwanderer kamen aus den inländischen Provinzen. Etwa 8% kamen aus dem Ausland, meist aus Italien, Russland, Polen darunter viele osteuropäische Juden.

Als Faktoren, die eine Einführung des Tangos in Paris beeinflussten, beschreibt Kerstin Lange u.a.:
--- Medienentwicklung, die die Freizeitangebote bekannt machten (Tages-Zeitungsgründungen 1863, 1883), Kulturzeitungen. Um 1900 konnte sich eine Geschäftsmann in Kairo über die Mode in Paris oder das Programm der dortigen Oper informieren
--- mehr Freizeit, keine Sonntagsarbeit, vom 12 Stundentag zum 10 Stundentag
--- Entstehung von Varietétheater, Pantomime, Puppenspiel, Zirkus, einfache Tanzlokale, entlang des Rings der Stadtmauer an Boulevards und im Dorf Montmatre als Vergnügungsviertel mit proletarischer Bevölkerung und zugezogenen Künstlern
--- Proletarische und kleinbürgerliche Stadtteile im Nordosten mit bescheideneren Sälen

Das Herüberschwappen des Tangos aus dem verrufenen Stadtrand von B.A. wurde von reichen argentinischen Emporkömmlingen, von denen es durch den Aufschwung Argentiniens viele in Paris gab, mit Nasenrümpfen beobachtet. Auch hier distanzierte man sich und sah gar den Ruf Argentiniens dadurch geschädigt. Ebenfalls ablehnend verhielt sich ein Teil der Tanzlehrer bzw. Vertreter der Tanzschulen, die meinten, man könne diesen Tanz keinesfalls in dieser Form sich verbreiten lassen; es sei ein Verfall der Kultur.
Hinein mischten sich nationalistische und rassistische Töne, sowie verächtliche Distanzierung von einer angeblich "niederen Kultur niederer Schichten".
Die ausgelassene Form des Tango wurde als "Apachentanz" bezeichnet, als Tanz der Wilden, Unzivilisierten, die sich zudem auch noch in den Vierteln der Unterprivilegieten oder in verrufenen Amüsiervierteln (Montmatre) konzentrierten. Dabei zeigt die Autorin detailliert die Gründe für die Lokalisierungen in den jeweiligen Vierteln auf. Sie beschreibt die Entstehung feinerer Lokale und weiß dabei darüber zu berichten wieviele Personen dort Platz fanden, wie die Ausstattung und die Preise waren.
Dem Streit zwischen Befürwortern und Gegnern des Tango, der sogar die höchsten politischen Spitzen beschäftigte, widmet die Autorin ausführliche Beschreibungen. Die Ablehnung des Tangos in der politisch führenden Oberschicht nährte sich u.a. durch die Erinnerung an die Aufstände, zuletzt der Pariser Commune. Sie weckte in der Oberschicht die Angst vor einer Bevölkerungsmasse, die in Bewegung kommt. Die Tangoveranstaltungen zeigten vorsichtigerweise zunächst den Tango vor allem auf der Bühne und während der Karneval-Maskenbälle in der Wintersaison. Da sich der Tango aber mit einer derartigen Wucht verbreitete, war er nicht mehr zu begrenzen und schon gar nicht aufzuhalten.
Eine stärker werdende Fraktion sprach sich daher für eine Assimilierung aus. Der Tango sollte "französisiert" werden. Dafür setzte man sich an höchster politischer Stelle, nämlich der Académie française ein. Es wurden in der Folge neue Tanzschritte entworfen und eine Verfeinerung angestrebt. So entstand der Salontango. An den Boulevards gab es bald große "cafés-concerts", die Oper und Theater Konkurrenz machten. Z.B. die Scala mit 350 qm für mehr als 1500 Gäste. Der obligatorische Getränkepreis betrug allerdings so viel, wie das Tageseinkommen eines Arbeiters.

Berlin

Wackeln und Schieben verboten
Der Abwehrkampf gegen den Tango sah in Berlin etwas rigider aus. Hier machte man sich nicht die Mühe, eine Verfeinerung des Tangos zu entwickeln. Man subsumierte den Tango pauschal unter die "neumodischen Tänze" des ragtime, onestep und twostep. Dann wurde alles als "Untergang der Kultur" beschworen und als "Wackel- und Schiebertänze" in eine Schublade gesteckt.
Der Tanzlehrerverband ging gegen Tango und gegen Schiebertänze vor, ja es wurde sogar erreicht, dass in den Tanzlokalen Schilder aufgehängt werden mußten mit der Aufschrift: "Schieben und Wackeln verboten!"

Es war ein Kampf gegen die Tanzkultur der Unterschichten, gegen Schiebertänze in den Vororten Berlins. Statt wie in Frankreich den Tanz zu integrieren, versuchten sie es mit Ignorieren, Diffamieren, Verdrängen und Verboten. DieserKampf gab vor gegen die Unsittlichkeit des Tanzes und den Verfall von Moral und Sitten vorzugehen. Das folgende steht zwar nicht im Buch, lässt sich aber aus den Darstellungen mutmaßend ableiten: Der Umgang mit den freien Tänzen (one-step, two-step, schieber, ragtime, tango) war von autoritär-preussischer Art geprägt, die sich von erotischer und sexueller Freiheit bedroht fühlte.

Politische Kritik an der Übernahme französischer Moden, hatte auch Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich zum Hintergrund (Anmerkung: Gleichzeitig versuchte Bismarck Frankreich zu isolieren, weil er nach dessen Niederlage im Krieg 1870/71 Revanche Frankreichs fürchtete. Daher war ein allzugroßer kultureller Einfluß aus Paris nicht gewünscht.)
Deshalb hieß es: Man müsse nicht alles übernehmen "was den Passierschein in Paris erhalten habe".
Mit dem 1. Weltkrieg 1914 – 1918 stoppte dann der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich einen weiteren Kulturtransfer.

 

Und nach dem Buch?

Am Ende des Buches hofft man, dass es eine Fortsetzung gibt, und die Veränderungen nach 1945 bis heute in gleicher Differenziertheit dargelegt werden. Allerdings kann das vorliegende Analysemuster der Arbeit zur Betrachtung auch der späteren Zeit herangezogen werden.
Im Folgenden der Versuch ein sichtbar gewordenes durchgängiges Spannungsverhältnis zu betrachten, das augenscheinlich bis heute reicht.

Die Spaltung des Tango in seinem wilden Ursprung einerseits und die europäische "Verfeinerung", Assimilierung, nationale Anpassung andererseits, wirkt m.E. bis heute fort.

Der Film >>Easy Virtue, ("Eine unmoralische Frau") eine britische Filmkomödie aus dem Jahr 2008 enthält eine Tango-Szene (mit oberflächlich einstudierten Tangoschritten). Dabei wird anschaulich dargestellt, wie Tango als verruchte Angelegenheit den Umstehenden den Atem stocken lässt, aber hinter ihrem Entsetzen schon die Begeisterung an der Lust hervorblitzt.

Die Tanzschulen nahmen notgedrungen irgendwann Tango ins Programm, entwickelten ihn jedoch wie die anderen Standardtänze als eine streng geregelte Schrittfolge.
Der klassische Tango der Tanzschulen, wie bei >>Tanzwettbewerben auch 2007 noch zu sehen, ist kaum mehr als der ursprüngliche Tango zu erkennen. Er zeigt mehr Ähnlichkeit mit dem Walzer und die ruckartigen Kopfbewegungen zeigen eine Pseudoleidenschaft, die nichts mit Tango zu tun hat und auf traurige Weise Null Corazon enthält.

Tango Argentino verbreitet sich in Deutschland mindestens seit 1980 zunächst völlig außerhalb der Tanzschulen, in seiner neuen Form mit Betonung auf "Argentino". In der Folge binden freie Tangolehrer*innen so viele Tanzbegeisterte, dass einige Tanzschulen über eine Modifikation des bis dahin "preussischen" Tangoverschnitts nachdenken, aber nirgendwo die freie Interpretation fördern, sondern Regeln, Schritte, Figuren lehren.
2016 - Hundert Jahre nach der Tangomania in Paris und Berlin wird auf der Seite tanzen.de, einer Vereinigung von 750 deutschen Tanzschulen jedoch stolz behauptet, Berlin sei nach Buenos Aires die 2te Hauptstadt des Tangos. Die Geschichte der dauerhaften Ablehnung durch die Tanzschulen ist vergessen.

Weil der Tango der herkömmlichen Tanzschulen in Regelhaftigkeit erstarrt war, konnte das Aufleben des Tango Argentino in einer selbständigen Tango-Szene starken Einfluß gewinnen. Allerdings ist mit dieser Neuentwicklung des emotional intensiveren und freieren Tango Argentino nicht die Linie beendet, die von Anfang an die Geschichte des Tango begleitete: die Ausgrenzung der Wildheit einerseits, und tatsächlich auch die Grenzziehung zu ärmeren, als "weniger kultiviert" angesehenen Bevölkerungsschichten.
Um nur ein einziges Beispiel von mehreren zu beschreiben: Wie ich durch einen Bericht einer unmittelbar Beteiligten erfahren habe, hatten Tangoveranstalter in einem Frankfurter Café den Wunsch geäußert, zukünftig nur noch Teilnehmer*innen mit höherer Bildung aufzunehmen. Die Café-Betreiber/in des philosphisch, politisch kritischen Cafés hat dies verhindert, indem sie diese Tangogruppe vor die Tür setzte.


Um Ausgrenzungen zu vermeiden, ist zunächst besonders wirksam, die Veranstaltungen kostenlos oder mit niedrigen Eintritts- und Getränkepreisen durchzuführen. Hierzu beizutragen können in Göttingen
kostenlose OpenAir-Milongas z.B. an der Paulinerkirche, der flashmobähnliche "Tatorttango" an wechselnden Locations und niedrig-preisige Milongas wie im KAZ.

Die Sympathie für den ursprünglichen, "wilden" Tango widerspricht jedoch keinesfalls dem Interesse an einer ästhetischen Weiterentwicklung des Tangos in Workshops. Dies kann allerdings auch anderweitig erfolgen, indem sich z.B gegenseitig Schritte beigebracht werden und kreativ eigene neue Improvisationen entwickelt werden. Die vorgehende Sichtweise ist lediglich gegen einen "Technikfetischismus" gerichtet der Schritte und Figuren ins Zentrum des Interesses richtet und das Corazon, die Leidenschaft, das Gesellschaftliche des Tanzes kommerziell erdrückt. Denn natürlich sollen auch die Verfeinerungen und Zurückhaltungen im Salontango nach Belieben überall übernommen werden können und nicht per se als Ausgrenzung wilderer Formen interpretiert werden. Jede ästhetische Entwicklung kann ein Gewinn sein. Wer könnte etwas gegen die Weiterentwicklung der Musik durch Piazzolla, das Pariser Gotanprojekt oder neue Tanzformen des Tango Nuevo haben. Man schaue sich nur die entsprechenden Tangovideos an: a) Oblivion von Piazzolla ) b) Tango Nuevo ) . Piazzolla wurd anfangs als Verräter der ursprünglichen argentischen Tangokultur beschimpft und ist inzwischen hochverehrt. Eine Verteidigung des ursprünglichen Tango, wie sie Piazzolla in der Anfangszeit gegen sich gerichtet erfahren mußte, ist genauso unproduktiv, wie die naserümpfende Ablehnung der "wilden Formen".

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