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Lesebericht / Günter Schäfer Buch: 1.7.2016 / (minimale
Korrekturen 28.3.24) Einwanderungskultur in Argentinien / Musikstile mischen sich in B.A. zu etwas Neuem Zunächst
umreisst das Buch den Schmelztigel aus dem der Tango hervorging: Argentinien wies
in der Zeit des Entstehens des Tango ein enormes Bevölkerungswachstum auf:
von 1869 = 1,8 Millionen stieg es auf über 8 Millionen im Jahr 1914. Im selben
Zeitraum wuchs Buenos Aires von 180.000 auf über 2 Millionen. Das
Bevölkerungsgemisch bestand u.a. aus: den Einwanderern (Gringos); die blieben
zu 50 % in Buenos Aires, den Einheimischen, Criollos (aus den argentinischen Provinzen),
Gauchos (in Berlin nannte man sie 1915 "argentinische Cowboys" ) Musik: Ebenso gemischt waren die Einflüsse der Musik. Am Stadtrand von B.A. in den Kneipen kamen Gitarre, Violine und Flöte zum Einsatz – Einwanderer brachten Polka, Mazurka, Habanera, und Tango Andaluz ein. Dazu kamen Stile der schwarzen Bevölkerung von B.A. und argentinische ländliche Traditionen. Als Paartanz entwickelte sich der Tango aus einer freien Kombination dieser Stile mit viel Freiheit für Improvisation Klassenspezifik:
Der Tango wurde von den Oberschichten in B.A. nicht beachtet; er wurde gleichgesetzt
mit sozialer Unterschicht, Subkultur, Armut, Prostitution und Kriminalität.
Paris Die
Beschreibung des Übergangs von Buenos Aires nach Paris ist in ihrer Differenziertheit
und Klarheit faszinierend. Als
Faktoren, die eine Einführung des Tangos in Paris beeinflussten, beschreibt
Kerstin Lange u.a.: Das
Herüberschwappen des Tangos aus dem verrufenen Stadtrand von B.A. wurde von
reichen argentinischen Emporkömmlingen, von denen es durch den Aufschwung
Argentiniens viele in Paris gab, mit Nasenrümpfen beobachtet. Auch hier distanzierte
man sich und sah gar den Ruf Argentiniens dadurch geschädigt. Ebenfalls ablehnend
verhielt sich ein Teil der Tanzlehrer bzw. Vertreter der Tanzschulen, die meinten,
man könne diesen Tanz keinesfalls in dieser Form sich verbreiten lassen;
es sei ein Verfall der Kultur. Berlin Wackeln
und Schieben verboten Es war ein Kampf gegen die Tanzkultur der Unterschichten, gegen Schiebertänze in den Vororten Berlins. Statt wie in Frankreich den Tanz zu integrieren, versuchten sie es mit Ignorieren, Diffamieren, Verdrängen und Verboten. DieserKampf gab vor gegen die Unsittlichkeit des Tanzes und den Verfall von Moral und Sitten vorzugehen. Das folgende steht zwar nicht im Buch, lässt sich aber aus den Darstellungen mutmaßend ableiten: Der Umgang mit den freien Tänzen (one-step, two-step, schieber, ragtime, tango) war von autoritär-preussischer Art geprägt, die sich von erotischer und sexueller Freiheit bedroht fühlte. Politische
Kritik an der Übernahme französischer Moden, hatte auch Spannungen zwischen
Deutschland und Frankreich zum Hintergrund (Anmerkung: Gleichzeitig versuchte
Bismarck Frankreich zu isolieren, weil er nach dessen Niederlage im Krieg 1870/71
Revanche Frankreichs fürchtete. Daher war ein allzugroßer kultureller
Einfluß aus Paris nicht gewünscht.)
Und nach dem Buch? Am
Ende des Buches hofft man, dass es eine Fortsetzung gibt, und die Veränderungen
nach 1945 bis heute in gleicher Differenziertheit dargelegt werden. Allerdings
kann das vorliegende Analysemuster der Arbeit zur Betrachtung auch der späteren
Zeit herangezogen werden. Die Spaltung des Tango in seinem wilden Ursprung einerseits und die europäische "Verfeinerung", Assimilierung, nationale Anpassung andererseits, wirkt m.E. bis heute fort. Der Film >>Easy Virtue, ("Eine unmoralische Frau") eine britische Filmkomödie aus dem Jahr 2008 enthält eine Tango-Szene (mit oberflächlich einstudierten Tangoschritten). Dabei wird anschaulich dargestellt, wie Tango als verruchte Angelegenheit den Umstehenden den Atem stocken lässt, aber hinter ihrem Entsetzen schon die Begeisterung an der Lust hervorblitzt. Die
Tanzschulen nahmen notgedrungen irgendwann Tango ins Programm, entwickelten ihn
jedoch wie die anderen Standardtänze als eine streng geregelte Schrittfolge.
Tango Argentino verbreitet sich in Deutschland mindestens seit 1980 zunächst
völlig außerhalb der Tanzschulen, in seiner neuen Form mit Betonung
auf "Argentino". In der Folge binden freie Tangolehrer*innen so viele
Tanzbegeisterte, dass einige Tanzschulen über eine Modifikation des bis dahin
"preussischen" Tangoverschnitts nachdenken, aber nirgendwo die freie
Interpretation fördern, sondern Regeln, Schritte, Figuren lehren. Weil
der Tango der herkömmlichen Tanzschulen in Regelhaftigkeit erstarrt war,
konnte das Aufleben des Tango Argentino in einer selbständigen Tango-Szene
starken Einfluß gewinnen. Allerdings ist mit dieser Neuentwicklung des emotional
intensiveren und freieren Tango Argentino nicht die Linie beendet, die von Anfang
an die Geschichte des Tango begleitete: die Ausgrenzung der Wildheit einerseits,
und tatsächlich auch die Grenzziehung zu ärmeren, als "weniger
kultiviert" angesehenen Bevölkerungsschichten. Die Sympathie für den ursprünglichen, "wilden" Tango widerspricht jedoch keinesfalls dem Interesse an einer ästhetischen Weiterentwicklung des Tangos in Workshops. Dies kann allerdings auch anderweitig erfolgen, indem sich z.B gegenseitig Schritte beigebracht werden und kreativ eigene neue Improvisationen entwickelt werden. Die vorgehende Sichtweise ist lediglich gegen einen "Technikfetischismus" gerichtet der Schritte und Figuren ins Zentrum des Interesses richtet und das Corazon, die Leidenschaft, das Gesellschaftliche des Tanzes kommerziell erdrückt. Denn natürlich sollen auch die Verfeinerungen und Zurückhaltungen im Salontango nach Belieben überall übernommen werden können und nicht per se als Ausgrenzung wilderer Formen interpretiert werden. Jede ästhetische Entwicklung kann ein Gewinn sein. Wer könnte etwas gegen die Weiterentwicklung der Musik durch Piazzolla, das Pariser Gotanprojekt oder neue Tanzformen des Tango Nuevo haben. Man schaue sich nur die entsprechenden Tangovideos an: a) Oblivion von Piazzolla ) b) Tango Nuevo ) . Piazzolla wurd anfangs als Verräter der ursprünglichen argentischen Tangokultur beschimpft und ist inzwischen hochverehrt. Eine Verteidigung des ursprünglichen Tango, wie sie Piazzolla in der Anfangszeit gegen sich gerichtet erfahren mußte, ist genauso unproduktiv, wie die naserümpfende Ablehnung der "wilden Formen". |