Die
Aufarbeitung einer Blamage Kein
Bedauern der Schuldigen, sondern Angriff gegen den Aufdecker des Desasters Nachdem
es überregional durch die Medien ging, dass in Göttingen "aus Versehen"
ein 600 Jahre altes Baudenkmal abgerissen wurde war man gegenüber demjenigen
der das aufgedeckt hatte anscheinend wirklich böse, denn es mußte seitens
der Verantwortlichen als Blamage empfunden werden was da passiert war. Statt
sich in Bedauern zu üben und Besserung zu versprechen wurde Dr. Wilhelm als
der Überbringer der schlechten Nachricht angegriffen. Aus dem Rathaus wurde
ein offener Brief an Dr. Wilhelm verschickt bei dem wir nicht glauben können,
dass er von Baudezernent Dienberg kommt. Obwohl sein Name im Absender steht ist
er auch nicht von ihm unterschrieben sondern durch ein i.A. ... Der ganze
Brief wirkt wie das Verhör eines Schuldigen (und genau diesen Eindruck scheint
man erwecken zu wollen) .... gerade so als ob er von einem Richter diktiert worden
wäre ;-)
Offener
Brief der Stadtverwaltung an Dr. Wilhelm 27.1.06 Sehr
geehrter Herr Wilhelm, sehr geehrte Damen und Herren (...) Eine
vollständige Beantwortung meiner Fragen könnte gewiss zur Versachlichung der zum
Teil emotionalen Diskussion der letzten Zeit beitragen. 1) Besaßen Sie -
im Gegensatz zur Stadtfverwaltung - zum Zeitpunkt des Hausabrissen prüfbare Hinweise
darauf, dass sich an dem Standort ein über 600 Jahre altes Fachwerkhaus befand?
2) Wenn ja, warum haben Sie die Stadtverwaltung und/oder die Öffentlichkeit
über Ihre Erkenntnisse nicht rechtzeitig und zeitnah informiert? 3) Lässt
nach Ihrer Meinung der Untersuchungsbefund eines einzelnen Fachwerkständers den
Schluss zu, in der Kurze Geismar Straße 30 habe sich bis zum Abriss ein soweit
intaktes 600 Jahre altes Gebäude befunden, das seinem Zustand und Charakter nach
die Eigenschaften eines Baudenkmals besaß? 4) Falls ja, worauf gründen sich
solche Annahmen? 5) Halten Sie es für denkbar, dass auf dem hausgrundstück
zu einem gegenwärtig nicht zu bestimmenden Zeitpunkt Bauteile aus einem älterne
(vielleicht in der Tat vor 600 Jahren errichten) Haus verwendet worden sind?
6) Halten Sie es für ausgeschlossen oder auch für wahrscheinlich, dass das haus
nach den massiven Baueingriffen in den 60er Jahren des letzten jahrhunderts irreparabel
die Eigenschaften eines Baudenkmals verloren hat? 7) Haben Sie prüfbare Hinweise
darauf, dass die Inventarisierung der Göttinger Baudenkmale Anfang der 80er Jahre
durch die Denkmalschutzbehörde des Landes Niedersachsen unvollständig oder nicht
gründlich genug erfolgt ist? 8) Wenn ja, worauf fußen solche Einschätzungen?
(...) Mit freundlichen Grüßen T. Dienberg , Stadtbaurat |
Der
Angegriffene bleibt souverän sachlich Der
Verein Stadt und Planung Göttingen e.V. bezeichnet dies zu recht als "seltsam
anmutenden Anfrage des Baudezernenten an unser verdientes Mitglied Dr. Wilhelm".
Der gute Herr Wilhelm bemerkte zwar auch den seltsamen, etwas unverschämten
Stil des offenen Briefes antwortet aber dennoch ausführlich - allerdings
ohne sich von dieser Art Fragerei beeindrucken zu lassen. (Im Folgenden Ausschnitte
aus dem recht langen Brief Dr. Wilhelms, Bamberg 31.1.06)
Gebäudeabriß
Göttingen, Kurze Geismarstr. 30 von 1392, Ihr Schreiben vom 27.01.2006
Sehr geehrter Herr Dienberg, (...)
Im Juni 2002 (...), fertigte ich in Absprache mit der damaligen "Göttinger
Bürgerinitiative für Öffentlichkeit in der Stadtplanung" -
Vorläufer des Vereins "stadtundplanung göttingen e. v." -
in mehrwöchiger Arbeit unentgeltlich ein Gutachten zur Denkmaleigenschaft
für die Bereiche Hempelgasse/Walkenrieder Schäferhof an. Dieses Gutachten
legte ich im August 2002 in mehrfacher Ausfertigung dem Dezernat D Planen und
Bauen vor. (...)
Da ich von der Stadtverwaltung
keinerlei Resonanz erhielt, stellte ich das Gutachten am 15.10.2002 den Stadtratsfraktionen
von CDU, SPD, FDP und den Grünen zur Verfügung. Ich zitiere aus dem
Begleitschreiben: "Eine Bestandsanalyse der historischen Bebauung auf
dem eigentlichen Lünemann-Gelände wäre angesichts der geplanten
Abbrüche als Entscheidungsgrundlage unbedingt notwendig, existiert aber bis
heute nicht - die Gebäude, die zur Disposition stehen (wie etwa das vor 1700
erbaute Nachbarhaus der Hubertus-Apotheke, Kurze Geismarstr. 30), sind weder erforscht
noch dokumentiert." (...)
Insgesamt entstand bei mir der Eindruck, dass die Stadtverwaltung nicht
an einer Untersuchung des Gebäudebestandes, geschweige denn an dessen Erhaltung
interessiert war. Zum
Haus Kurze Geismarstraße 30, dessen Betreten und Untersuchen mir als Privatperson
selbstverständlich nicht gestattet war: Dem äußeren Erscheinungsbild
nach mußte es spätestens um 1700 entstanden sein, da die Stockwerkhöhen
auffällig niedrig waren - die 1733 erlassene Göttinger Bauordnung schrieb
schlicht vor, die Etagen "hoch" zu bauen. Das Fehlen einer Vorkragung
bildete kein Indiz für ein geringeres Alter des Hauses, denn mit dem Erlaß
der Bauordnung von 1833 wurde das Absägen vorkragender Geschosse sogar steuerlich
gefördert: laut § 31 erhielt jeder Bauherr, der seinem alten Haus eine senkrechte
Vorderseite gab, eine zweijährige Steuerfreiheit. Die Beseitigung von Auskragungen
war also keinesfalls ungewöhnlich, sondern markiert ein wichtiges Kapitel
der Baugeschichte Göttingens.
Um 1960 - Beide Fotos von Dr. Wilhelm zur Verügung gestellt |
Oktober 2004 (einen Monat später war es abgerissen) | Im
Oktober 2004 entdeckte ich beim Passieren der Abbruchstelle Kurze Geismarstr.
30, dass im ersten Obergeschoß noch sechs großdimensionierte
Fassadenständer aufragten, die mit Hakenblattsassen für Kopfbänder,
Schlitze mit den Resten abgestemmter Knaggen und seitlichen Ausnehmungen für
Brustriegel unmißverständlich auf eine mittelalterliche Bauzeit verwiesen.
Eine Zweitverwendung war absolut ausgeschlossen, da sich an den identisch abgezimmerten
Ständern keinerlei Spuren vorhergehender Abzimmerungen befanden. Das Dendrolabor
der Otto-Friedrich-Universität Bamberg konnte zwei dieser eichenen Fassadenständer
mit je über 70 Jahrringen zweifelsfrei datierten. Die Fälljahre
lagen zwischen 1388/89 und 1390/92, so dass das Hausgerüst um 1392 errichtet
worden sein muß. Das Alter der Riegel ließ sich nicht bestimmen, und
auf die Beprobung der typischen geschweiften Knagge, die von der Rückseite
des Hauses stammt, wurde vorerst verzichtet. Auf den Ständern und einem Riegel
fanden sich Reste einer roten Farbfassung. Zur Konstruktion läßt sich
sagen, dass die Aussteifung des Baus durch nach innen weisende Kopfbänder
für Göttinger Bürgerhäuser dieser Zeit charakteristisch war,
wie unter anderem das dendrochronologisch auf 1429 datierte Haus Rote Str. 14
belegt. Von
den vermuteten irreparablen Eingriffen der 1960er Jahre, die die Denkmaleigenschaft
des Hauses - als einem von bundesweit 100 - 150 erhaltenen Exemplaren dieses Alters
- in Frage gestellt hätten, kann keine Rede sein. Schon die wenigen,
im Göttinger Tageblatt vom 18.1.2006 abgebildeten Abbruchfotos belegen, dass
die Wände und Decken des ersten Obergeschosses größtenteils im
Originalzustand erhalten waren, einschließlich Staken und Lehmausfachung.
Der Vergleich mit der ebenfalls veröffentlichten Aufnahme von 1955 zeigt,
dass auch das angeblich entstellte Äußere weitgehend intakt war.
Der Baukörper hätte sich problemlos wieder auf das klassizistisch-historistische
Erscheinungsbild zurückführen lassen, und zwar durch Anbringung neuer
Fensterbekleidungen und eines zurückhaltenderen Gestaltung des Ladengeschäfts
im Erdgeschoß. Eine Rekonstruktion des mittelalterlichen Zustands hätte
ohnehin allen denkmalpflegerischen Prinzipien widersprochen. (...)
Mit freundlichen
Grüßen Dr.-Ing.
(des.) Dipl.-Geogr. Jan Volker Wilhelm | zum
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