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Gerda Freise

Gerda Freise ist am 11. Juli 07 gestorben. Sie ist uns begegnet, als wir Unterstützung suchten für unsere Kritik an der bedenklichen Tendenz, den Ökologiebegriff zum Ausgangspunkt einer spiritualistischen Ideologie zu machen. Sie gab uns in der Kritik Rückhalt und wertvolle Hinweise. Sie war bei anderen wichtigeren Angelegenheiten präsent, wenn geistige, moralische Standfestigkeit und das Aushalten von Kritik gefragt waren - gegen alle Widerstände und Bedrohungen. Einige Menschen in Göttingen haben ihre Hilfe auch sehr unmittelbar und materiell erfahren.
Die Erinnerung an Gerda Freise hilft uns bei der Selbstvergewisserung über unsere eigenen Ziele - die Festigung der Vorstellung davon, wie wir sein wollen oder sollen. Die Erinnerung an Gerda Freise gehört für uns zu dem anderen Göttingen, dem wir zu Wort und Bild verhelfen wollen. /
Redaktion GOEST

Nachruf von Angehörigen und Freundinnen und Freunden
Gerda Freises Wegweisender Artikel "Geist und Natur" von 1988
Weitere Hinweise

Nachruf von Angehörigen Freundinnen und Freunden

Zur Erinnerung an Gerda Freise

29. April 1919 - 11. Juli 2007

"Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit"
(Aus einem Flugblatt der Weißen Rose)

In diesem Sinne hat Gerda sich stets mit wachem Geist in das politische Zeitgeschehen eingemischt.

Mit offenem Herzen und solidarischer Mitmenschlichkeit hat sie ihre Überzeugungen gelebt.

Gerda Freise studierte von 1938 an Chemie in München und lernte bei ihrem Lehrer Heinrich Wieland auch, wie jeder an seinem Platz Widerstand leisten kann und muss. Nach ihrer Promotion arbeitete sie als Wissenschaftlerin in Göttingen. 1960 entschied sie sich für den Beruf einer Lehrerin, studierte an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen, arbeitet vier Jahre lang als Grundschullehrerin, von 1966 an als Dozentin der Chemie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. 1974 wurde sie auf den Lehrstuhl für Didaktik der Naturwissenschaften nach Hamburg berufen und bewies viel Mut, indem sie sich den gängigen Lehrmeinungen widersetzte. Nach ihrer Emeritierung 1984 beschäftigten sie die Themen "Naturwissenschaften und Faschismus", die Kontinuität faschistischer Ideologie in der Pädagogik und Erinnerungen an den Widerstand in München.

 

Die engagierte Naturwissenschaftlerin besuchte 1988 in Hannover den Kongress "Geist und Natur" und konnte kaum fassen, was dort ablief. Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Peter C. Bosetti vom Verlag Wechselwirkung www.wechselwirkung.com und auf ausdrückliche Zustimmung der Angehörigen veröffentlichen wir den folgenden Aufsatz


Geist & Natur

von Gerda Freise
aus: WECHSELWIRKUNG Nr. 38., August 1988

Ernst Albrecht rief, und alle kamen. Im Mai 1988 strebte Hannover für eine Woche ins Unermeßliche. Welt und Wirklichkeit galt es im Wandel der Erfahrung und im Annäherungsprozeß von Philosophie, Naturwissenschaft und Religion zu ergründen.
Wer alles an die Leine kam und wie an die Leine gelegt wurde, beschreibt Gerda Freise, die für die WW den Kongreß besuchte und beobachtete.
von Gerda Freise
Die schon im Sommer 1987 verschickten Vorbereitungspapiere zum Kongreß »Geist & Natur« legten die Vermutung nahe, in Hannover sollte ein auf einem neuen Paradigma basierendes Weltbild entwickelt werden, dem ein ganzheitliches Bild vom Menschen (entspricht), der als geistiges Wesen Teil der Natur ist und sich mit Hilfe von Symbolen sprechend und handelnd in der Welt bewegt, um zu überleben.
Doch Ivo Frenzel, Pressesprecher des Kongresses. bemerkte auf der Pressekonferenz, es gehe nicht um ein neues Weltbild, sondern darum, existierende Probleme und »vagabundierende Zeitfragen« aufzunehmen.
Worum es tatsächlich gehen sollte, machte dann Ernst Albrecht in seiner Eröffnungsansprache klar, als er in drei Feststellungen sagte:
»Erstens: Philosophie und Naturwissenschaft, aber auch Religion und Naturwissenschaft bewegen sich wieder aufeinander zu.
Zweitens: Unsere Einstellung zur Natur und unsere Sicht des Menschen in der Natur haben sich in den letzten Jahren tiefgreifend gewandelt. Die moderne Technik, dieses Kind der Naturwissenschaft, hat uns gelehrt, dass wir mit den klassischen linearen Vorstellungen von der Natur nicht auskommen, dass wir einen Weg finden müssen. der durch das Verhältnis von Einheit und Vielheit, Geist und Natur hindurchführen kann.
Drittens: In dem Maße, wie die moderne Technik etwa durch Raketen oder durch die Telekommunikation den Raum überwindet, aber auch in dem Maße, wie eben diese Technik globale Gefährdung mit sich bringt, wird die Welt tatsächlich versagen…, wird die Erde unbewohnbar. Wenn die Völker der tropischen Zone bedenkenlos die Urwälder abholzen, können sie das Klima in der gemäßigten Zone zerstören. Auch das Ozonloch in der Antarktis zeigt uns, dass wir globale Verantwortung tragen. .
.. Ist es da nicht von größter. ja von friedenssichernder Bedeutung. dass wir mehr voneinander wissen, dass wir uns tiefer verstehen, als nur in der Anwendung moderner Technologien oder im Austausch von Waren? Mit anderen Worten: ich meine, dass es höchste Zeit ist, dass westliche und östliche Welt- und Gotteserfahrung sich begegnen... « (Hervorhebungen G. Fr.).

Das alles verstärkte den Argwohn, mit dem ich nach Hannover gefahren war, und machte gespannt: Wie würden die Voraussetzungen beschaffen sein, um derartige Probleme hier in Angriff zu nehmen?
> Waren Vertreter jener Völker, die Urwälder »bedenkenlos« abholzen, geladen worden, um uns die Macht- und Lebensverhältnisse dort zu erklären?
> Waren Vertreter jener Länder (in Afrika oder Lateinamerika) unter den Vortragenden, die uns von ihrer Einstellung zur Natur, ihrer Sicht des Menschen und ihren religiösen Traditionen und von deren Wandel durch Kolonialismus, Neokolonialismus oder Entwicklungshilfe berichten?
>Waren Wissenschaftler aus beiden Machtblöcken (Nato und Warschauer-Pakt geladen, um uns über ihre Gründe für möglicherweise kontroverse oder übereinstimmende Standpunkte zu den genannten Problemen aufzuklären?
Nein: Neben Vertretern verschiedener christlicher und fernöstlicher Religionen wurden ca. 60 mehr oder weniger weltberühmte Wissenschaftler aus der westlichen Welt zusammengerufen (Physiker, Chemiker, Neurophysiologen, Psychologen, Philosophen, Theologen ...).
Und nachdem Ernst Albrecht die Einvernehmlichkeit unseres Fühlens und unseres Denkens festgestellt hatte, war außerdem klar: Wir würden hier in Hannover gewiß nicht von Gorleben, von Dürrekatastrophen, von Chemieunfällen sprechen. Wir würden vor allem nicht nach den Gründen für dergleichen und für das »bedenkenlose« Abholzen der tropischen Regenwälder fragen, nicht nach den Macht- und Lebensverhältnissen in diesen Weltregionen, kurzum nicht nach den Ursachen bzw. dem »verursachenden Geist« solcher Krisen und Katastrophen, sondern allein nach neuem Sinn und nach den Werten unseres Lebens suchen.
Und außerdem: Der Rahmen. in dem dieser Kongreß stattfand, war so gesteckt, dass die tägliche Erfahrung in der verschmutzten Umwelt (die Autoabgase an den Verkehrsknotenpunkten oder in der Rush-hour, der Krach von Lastautos oder Tieffliegern, der Gestank so mancher Gewässer…) unsichtbar, unriechbar, unhörbar, unfühlbar blieb. Diese Realität blieb draußen vor der Tür der Stadthalle von Hannover, deren Inneres stilvoll ausgestaltet worden war.

Zwischen Neugier des Forschers und Laune der Natur
War nicht dem Programm, zumindest auf den ersten Blick, eine gewisse thematische und personelle Pluralität zu bescheinigen, zumal Joseph Weizenbaum und Erwin Chargaff als Vortragende neu hinzugekommen waren? Würde es vielleicht doch zu einer öffentlichen Diskussion zwischen Wissenschaftlern mit unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen, weltanschaulichen und politischen Auffassungen kommen, einer Diskussion beispielsweise zwischen Chargaff, Dürr, Eigen und Weizenbaum? Doch nichts dergleichen konnte passieren (und zwar nicht nur, weil Chargaff wegen eines Unfalls nicht kommen konnte, weil die »Regie« so etwas nicht vorgesehen hatte und, wie ich vermute, auch überhaupt nicht wünschte.
So blieben denn Weizenbaum und Chargaff (dieser hatte sein Manuskript geschickt, das nicht wie zunächst angekündigt, verlesen wurde, sondern einem Pappkarton im Foyer entnommen werden konnte und im übrigen gänzlich unerörtert blieb) die einzigen, die die Wissenschaft selbst, ihre politische Funktion, ihre Wirkungen auf und die Folgen für »die Natur des Menschen« zum Thema machten. Diese beiden »Ketzer« bestreiten anhand ganz konkret benannter Tatsachen und Entwicklungen das Wertfreiheitspostulat der Wissenschaft und betonen, dass Formulierung und Auswahl von Forschungsfragen immer schon auf »Wert- Entscheidungen« (Weizenbaum) basieren. Sie kritisieren auch das gültige Konzept der »Grundlagenforschung«, das von Anfang an auf technische Auswertung, Verwertung und Industrialisierung der Forschungsergebnisse ziele.

Beide nennen den Zustand ihrer Wissenschaft in hohem und gefährlichem Maße »irrational« und »arrogant«, beide fordern radikal ein Forschungsmoratorium, und beide scheinen verzweifelt zu versuchen, eine durchgedrehte Maschine gegen den Widerstand der Mächtigen anzuhalten.
Neben ihnen der weitgehend fachimmanent argumentierende Physiker Hans Peter Dürr. der seit einiger Zeit versucht, den Elfenbeinturm der »reinen Physik« zu verlassen, und dessen Warnungen, Umwelt- und Friedensengagements innerhalb der »scientific community« als äußerst lästig und anstößig empfunden werden. Er hatte in seinem Vortrag dem Publikum die Grundzüge der klassischen und der quantentheoretischen Wirklichkeitsinterpretationen und deren Grenzen zu erklären versucht. Viele Zuhörer schienen begeistert zu sein. Sie hatten vielleicht zum ersten Mal im Leben das Gefühl, im Ansatz zu kapieren, was den Unterschied zwischen klassischer und quantentheoretischer Physik ausmacht, als Dürr in seinem Vortrag diesen Unterschied an der »Parabel vom Netz des Ichthiologen» und an den beiden »Weltmodellen« vom »deterministisch-atomistischen ‘Nylonseil‘ bzw. vom quantenmechanischen ‘Nylon-Halbseil’« verdeutlichte. Aber ob sie auch behalten und verstanden haben, was Dürr entsprechend seinem Buch »Das Netz des Physikers« noch erklärte, wage ich zu bezweifeln. dass nämlich die geläufigen Vorstellungen eines mechanistisch-deterministischen Verhaltens der Materie nicht ganz unbrauchbar geworden sind und für die meisten Objekte unseres Alltags trotz quantentheoretischer Grundstruktur als extrem gute Näherung anzusehen sind.
Viele der von Dürr in ihrer physikalischen Bedeutung benutzten Begriffe und Metaphern (Wahrscheinlichkeit. Ganzheitlichkeit. Unbestimmtheit, offene Zukunft. fortwährende Entfaltung des Naturgeschehens u. dgl. mehr) sind nämlich inzwischen in die Sprache derjenigen integriert worden, für die »Quantenphysik« zur Metapher einer quasi religiösen Weltanschauung geworden ist, so dass sie Dürrs Vortrag möglicherweise als »wissenschaftliche Untermauerung« eben dieser Weltanschauung auffaßten.
In seinem Vortrag »Was heißt und zu welchem Ende betreibt man Grundlagenforschung» bekannte sich Manfred Eigen — anders als Weizenbaum, Chargaff und Dürr - dazu, im besagten Elfenbeinturm auch weiterhin bleiben und sich wohl fühlen zu wollen — zumal er dort offenbar eine umfangreiche Bibliothek um sich hat, wie er durch zahlreiche Zitate von Schiller und Goethe über Karl Kraus, Brecht, Dürrenmatt bis zu Habermas, Odo Marquard und Hermann Lübbe anzudeuten wußte. Er plädierte für uneingeschränkte Grundlagenforschung. Wie man weiß, ist der Gelehrte damit beschäftigt, »Die Evolution als physikalisches Phänomen« darzustellen und das Konzept einer »evolutionären Biotechnologie« zu entwerfen. Dazu braucht er nicht nur schöngeistige Literatur. sondern auch »Evolutions-Maschinen«, um die technologische Nutzung des erlangten Wissens vorzubereiten: alles gemäß dem von ihm in Hannover verkündeten Grundsatz: Ohne die Neugier des Forschers bleiben wir »Laune der Natur«.
Einen winzigen Hinweis auf wahrscheinlich tiefgreifende Meinungsunterschiede vermittelte ein kurzer Wortwechsel zwischen Dürr und Eigen, als sie zusammen auf dem Podium saßen. Dürr hatte die auch in seinem Buch aufgeworfene Frage gestellt: »Darf Grundlagenforschung auch ohne Blick auf mögliche Anwendungen betrieben werden?« Darauf entgegnete Eigen, der ja gerade dargelegt hatte, dass man eventuellen Mißbräuchen niemals mit einem Erkenntnisverzicht begegnen dürfe, lächelnd: Was er, Dürr, denn erforschen wolle, wenn nicht »Grundlagen der Physik«? Worauf dieser konterte, er halte z . B. die Erforschung von Möglichkeiten einer Säuberung der Ostsee für derzeit dringlicher. Doch damit war auch schon wieder Schluß des Austauschs kontroverser Meinungen.

Wo Geist & Natur am Herzen liegt
Einer sprach doch von Gorleben. Sich direkt an Ernst Albrecht wendend, sagte Carl-Friedrich von Weizsäcker: »Seit ich einmal vor nun neun Jahren mit Ihnen im sogenannten Gorleben-Hearing eine Woche lang zusammenzuarbeiten hatte, wußte ich, dass ich Ihnen eine Bitte zu erneuter Zusammenarbeit nicht abschlagen würde, zumal nicht über ein Thema, von dem ich schon damals wußte, dass es Ihnen so am Herzen liegt wie das heutige Thema Geist & Natur.« Es folgt der Vortrag des Hohepriesters der Quantenphysik. Nach einem Blick zurück auf die »machtförmige cartesianische Naturwissenschaft« spricht er — in schwer zu folgenden Überlegungen — über »die zentrale Theorie heutiger Physik«, die Quantentheorie, und über »die philosophischen Konsequenzen«, die er daraus glaubt ziehen zu dürfen. Die Quantentheorie, die man »holistisch, ganzheitlich« nenne, weil »sie die Endgültigkeit aller Teilungen leugnet», biete die »Denkmittel für einen spiritualistischen Monismus«. Sie sei »eine allgemeine Theorie von Wahrscheinlichkeitsprognosen über empirisch entscheidbare Alternativen«, sie beziehe sich also auf »Fragen, die eine angebbare Mehrzahl von Antworten zulassen. «

An dieser Stelle schweiften meine Gedanken ab und in die siebziger Jahre zurück. Mir kamen des Redners umfangreiche Beiträge in der »Zeit« wieder in den Sinn, in denen von Wahrscheinlichkeitsprognosen und -berechnungen die Rede gewesen war. Die wahrscheinliche Anzahl von Toten während eines 50 Jahre andauernden Reaktorbetriebs wurde da errechnet und mit den konkreten Verkehrstoten der Gegenwart verglichen. Hatte er darin nicht jahrelang die selbst gestellte Frage »Leben mit der Kernenergie« eindeutig mit »ja« beantwortet? Offenbar fielen ihm damals im Gegensatz zu anderen Menschen, die allerdings meist keine Quantenphysiker waren, keine »empirisch entscheidbaren Alternativen« ein. Und in Gedanken fragte ich mich: War wirklich nur die cartesianische Naturwissenschaft machtförmig gewesen? Hatte nicht der Quantenphysiker von Weizsäcker (sich auf sein Renomee als solcher und auf sein diesbezügliches Wissen berufend) großen Anteil an der herrschenden politischen Macht?
Von »Bewußtseinswandel« spricht der Weise jetzt viel, auch in Hannover. Doch nur in einem allgemeinen, abstrakten, quasi kulturellem Sinn. Von einem Eingeständnis seiner damaligen persönlichen Irrtümer und dem Bedauern falscher, teilweise zynischer Urteile über Sachen und anders denkende Personen habe ich noch nichts gehört und gelesen.
Auch beim anschließenden Vortrag des Philosophen Hans Jonas war ich nicht hei der Sache Vielleicht 1ag das daran, dass es mir weder jetzt noch früher bei der Lektüre seiner Schriften gelang zu verstehen, auf welche Weise denn Jonas‘ philosophische Überlegungen zum »Prinzip Verantwortung« oder zum Thema »Wertfreie Wissenschaft und Verantwortung: Selbstzensur der Forschung« zur Praxis werden könnten.
So sehr ich seinen vielen Feststellungen und Warnungen, insbesondere im Hinblick auf Genetik und Gentechnologie. auch zustimme, so wenig verstehe ich, dass er »im Zweifel für die Freiheit« (der Wissenschaft) votiert. Da stellt sich die Frage, ob so eine »Philosophie des Warnens« nicht zu einer Alibi-Philosophie verkommt oder zumindest dazu bereits gemacht wurde. Sie wird offenbar überall gern gehört. Auch auf der Jubiläums-Veranstaltung »100 Jahre Höchst-Pharma» 1984, wo sie neben Ernst Winnakers Vortrag über »Gentechnik — Erwartung und Wirklichkeit« anstandslos bestehen konnte. In Hannover hatten Jonas‘ Überlegungen jedenfalls — soweit ich feststellen konnte - keine Folgen. Sein Glaube. dass der Geist von einem Schöpfer in die Natur gebracht wurde. störte und verstörte niemanden.

Gehirnforscher auf der Suche nach dem Geist
Vielleicht können Gehirnforscher helfen, die Beziehung zwischen «Geist & Natur» aufzuklären — so mögen die Planer des Kongresses gedacht haben, als sie drei von ihnen einluden. Der berühmteste, Sir John Eccles. berief sich —wie schon Hans Jonas — auf Gott. Er habe bei jahrzehntelanger Gehirnforschung das Geheimnis des Geistes und die Entstehung des Selbstbewußtseins nicht aufklären können und sei deshalb ein Dualist. Demgegenüber taten die beiden anderen so, als seien sie dem Geheimnis auf der Spur, ja, hätten es aufgeklärt.
Ernst Pöppel, Professor für medizinische Psychologie, vertrat dabei reduktionistische Wissenschaft in Reinkultur.
Ungeniert sprach er vom Gehirn als einer Maschine, bekannte auch, dass er, der sich als »Naturforscher« definiert, immer daran interessiert sei, »Daten zu bekommen«.
Ideale Forschungsobjekte scheinen Patienten in Narkose und gehirnoperierte Menschen zu sein. Jedenfalls hat er herausbekommen, dass »in der Narkose das Zeitgefühl verschwindet«.
Äußerst wichtig war ihm, vor allem in Hinblick auf das Thema ‘Geist & Natur‘ von der Entdeckung eines universellen, für alle Sprachen geltenden Phänomens zu berichten, demzufolge Lyriker in allen Sprachen den Drei-Sekunden-Vers bevorzugen. Bei 200 von ihm untersuchten Gedichten habe die durchschnittliche Versdauer 3.1 sek. betragen. Zum Beweis trug er Gedichte in fünf verschiedenen Sprachen mit der Stoppuhr in der Hand vor — deutsch, englisch, französisch, lateinisch, altgriechisch. Das Forschungsergebnis lege die Hypothese nahe, dass die für Gedichte benötigten Formen durch die biologische Ausstattung des Menschen vorgegeben sein können.
Auch hier war ich nicht richtig bei der Sache, dachte, ich säße im absurden Theater. Aber die besorgte Rückfrage bei einer Kollegin ergab, dass unsere Aufzeichnungen übereinstimmten. Sie ergänzte nur, der Vortragende — offenbar ein begeisterter Empiriker — habe auch, die Frage aufgeworfen, ob man nicht aufgrund solcher Forschungsergebnisse annehmen müsse, dass dieser Drei-Sekunden- Takt der Struktur unseres Zeiterlebens entspreche und daher der Kreativität des menschlichen Geistes biologische Schranken gesetzt seien…
Danach kam Francisco Varela an die Reihe. Er wurde bekannt durch das mit Humberto Maturana verfaßte Buch »Der Baum der Erkenntnis«, in dem das kybernetische Modell einer »biologisch begründeten Erkenntnistheorie« entfaltet wird und alle diejenigen Begriffe vorgestellt und definiert werden, die sich inzwischen von ihren Urhebern abgelöst haben und ins Vokabular der Bewegungen des Neuen Denkens integriert worden sind. Sich an Eccles wendend, sagte Varela »Ich bin kein Dualist!« denn (?) »Wir stehen in einer kreativen Partnerschaft zur Natur«. Er wolle ergründen, wie der »ganzheitliche Prozeß des Verstehens ablaufe, wie jedes einzelne Lebewesen Selbstbewußtsein« herstelle. Seine Erkenntnisse gewinnt er dabei genau wie Pöppel aus »Labor-Experimenten« an neurochirurgischen Patienten. Und als Ergebnisse der »wissenschaftlichen Untersuchung der Erkenntnis als biologisches Phänomen» formuliert er Sätze, die ich vielleicht vor ca. 60 Jahren schon mal gelesen habe: In den Erbauungs-Traktaten, die mir meine fromme Großmutter gab, stand auch, dass es ohne Liebe und Achtung vor dem Nächsten nicht gehe. Diese alten Traktate sind mir aber lieber, denn deren Verfasser kamen ohne vorherige Menschenversuche auf ihre Sprüche.

Frauen, Geist und Natur
Ich schätze, dass der Kongreß etwa zur Hälfte von Frauen besucht wurde. Im Programm fand ich die Namen von vier Frauen und 59 Männern als Vortragende. Die Frage nach dem Grund für ein solches Planungsergebnis war auf der Pressekonferenz zu erwarten. Die Antwort: Man habe das »zu spät bemerkt«, und alle Versuche, doch noch einige Frauen für Vorträge zu gewinnen, seien leider, leider fehlgeschlagen.
Ich war neugierig auf Carolyn Merchant. deren wissenschaftshistorisches Buch »Der Tod der Natur« mich interessiert hatte, und auf Hazel Henderson, deren Buch »Das Ende der Ökonomie« ich ebenfalls, und ohne Verständnis für manch positive Pressereaktion, gelesen hatte.
Carolyn Merchant plädierte für eine »ökozentrische (Kosmos-) Ethik« und entwickelte ihre öko-systemtheoretischen Vorstellungen mit vielen bekannten Argumenten: Die Erde sei ein lebender kollektiver Organismus, in dem der Mensch Teil des Systems sei. Daraus müsse sich auch sein Verhalten bestimmen. Jeden Tag müsse er überprüfen, ob er im Sinne der ökologischen Ethik handele.
Carolyn Merchant hofft auf die Erfolge von Projektgruppen. die an der »Wiederherstellung der Natur« arbeiten und auf die Durchsetzung von »Agro-Okologie«. Sie nannte ein Projekt zur Wiederherstellung einer Prärie in ihrer ursprünglichen Form. Am meisten aber hofft sie auf die öko-feministische Bewegung, denn: «Frauen sehen sich selbst als Natur«. Ach hätte sie doch, dachte ich, Hedwig Dohms vor mehr als 100 Jahren erschienene Streitschrift »Die wissenschaftliche Emanzipation der Frau« oder Simone de Beauvoirs Werk »Das andere Geschlecht« gelesen, dann wüßte sie, dass »die Biologie nicht (ausreicht), um uns die Antwort auf die uns beschäftigende Frage zu geben« (Beauvoir).
Selbstbewußt und lässig ging danach Hazel Henderson mit dem Vokabular der Quanten- und Evolutionstheorie von Heisenberg bis Prigogine um. »Wir entdecken«, sagte sie ganz im Stil ihres Buches, »Die neue Weltordnung in der Wissenschaft«, »und erinnern uns, dass wir.. .die selben fünf Prinzipien (Verbundenheit, Umverteilung, Veränderung, Komplementarität und Unbestimmtheit, G.F.) (auch) in allen religiösen und spirituellen Traditionen finden«.
Auch sie sprach, ich hörte es zum x-ten Mal, von der gesamten Biospäre als einem einzigen lebenden Organismus. Emphatisch proklamierte sie zwecks schneller Lösung aller Probleme die »globale Vernetzung« von allem mit allem (wie im Bankwesen ja bereits geschehen). Dazu sei allerdings die Entwicklung eines »spirituellen Bewußtseins« aller Menschen nötig. Sie meinte auch, jeder müsse innerhalb dieses Globalsystems für sich selbst ein »Sicherheitskonzept« entwickeln und Vorsorge betreiben, denn z.B. könne ja der Arbeitsplatz verloren gehen. Neckisch bezog sie das Publikum ein, indem sie fragte, wer denn von den hier Anwesenden schon an so ein Konzept gedacht habe.
Die einzig vernünftige Entgegnung auf dieses Gerede hörte ich von Martin Jay, Historiker und Verfasser einer Arbeit über die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialgeschichte. Im Gefolge solcher Globalisierungstendenzen würden bestehende Abhängigkeiten und Ungleichheiten größer, zumal ja ein immenses Kontrollsystem zu entwickeln sei. Aber, wie nicht anders zu erwarten: Eine Diskussion fand danach nicht statt.

Neues und altes Denken
Nachdem ich an diesem Tage auch noch den New-Age-Publizisten Peter Russell hatte sagen hören, dass die moderne Gesellschaft aus dem Manhattan-Projekt lernen könne, wie effektiv, schnell, sicher und vorteilhaft es sei, ein gemeinsam gestecktes Ziel durch ganzheitliche, Institute übergreifende Zusammenarbeit zu erreichen, hatte ich endgültig genug vom »Neuen Denken« und dem ihm anhaftenden Zynismus. Also Schluß damit und hin zum »alten Denken« des berühmten Sir Charles Popper, dem einzigen, dem es während der Abschlußveranstaltung gelang, ein dumpfes Grollen im Saal hervorzurufen: Sein »Umriß einer Weltansicht«, von ihm selbst »Appell eines Optimisten an die Intellektuellen« genannt und als »Anklage an alle modischen Pessimisten« gerichtet, gipfelte immer wieder in Sätzen, bei denen mir der Atem stockte: »Die Bombe mußte eingesetzt werden, um wieder Hoffnung in die Welt zu bringen«. Sie habe fast alle Politiker zu Pazifisten gemacht. Jetzt leben wir »in einer Welt ohne Sklaven«, alles bewege sich in eine bessere Richtung, die Entwicklungsländer seien für sich selbst verantwortlich. Der Mythos von der schlechten Welt sei von den Medien verbreitet worden. Auch Popper sprach von »Evolution«, die unter dem Zeichen von mehr Freiheit, mehr Wissen und weniger Schrecken stehe. Diejenigen, die hier »grölten«, seien wie die Leute vom KluKlux-Klan, die alles Gute zerstören wollen.
Carl-Friedrich von Weizsäcker ging auf Popper ein: Er finde die Reaktionen des Publikums begreiflich, aber er »bewundere« auch »Sir Charles Poppers Mut, dass er das sagte, was er sagte. « »Poppers moralischer Anspruch« sei so groß, dass er »oft falsche Meinungen äußert« — sagte von Weizsäcker. Das verstehe wer will.

Mein Resumee
Ich denke, dass auf diesem Kongreß nichts passierte, was nicht in der Absicht der Veranstalter lag: Weder die Randexistenz der wenigen kritischen Wissenschaftler noch die irrationale Verwendung naturwissenschaftlicher Konzepte für die Zwecke des »Neuen Denkens« noch der massenhafte und phrasenhafte und gleichzeitig abstrakte, die Wirklichkeit nicht berührende Gebrauch bestimmter Begrif1 und Metaphern noch Sir Charles Poppers reaktionärer Aufruf lassen sich als Merkmale eines »sich selbst organisierenden Systems fern vom Gleichgewicht« interpretieren. Denn alles war ein gut inszeniertes

Politisches Theater.
Eine Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften, mit ihren Problemen, mit ihren Verwertungsaspekten und der Kritik daran konnte und sollte im Rahmen des Kongresses nicht stattfinden. Die »Annäherung« von Philosophie, Naturwissenschaft und Religion sollte beschwichtigen, sollte das Weiterleben mit allen Unzumutbarkeiten erträglicher erscheinen lassen.
Manch berühmter Wissenschaftler versuchte in Hannover, sich »allgemeingültige«, «Welt interpretierende Erklärungen« zurechtzubasteln und einen ideologischen Uberbau zu formulieren. Geradezu phantastisch mutet dabei an, mit welchen Banalitäten sie sich dabei zufrieden geben, mit welcher Eitelkeit sie diese zum besten geben und mit welchen Leuten als Claque sie sich einlassen. Ebenso phantastisch ist, dass weit mehr als 1000 Menschen aus »gebildeten Kreisen« solche Banalitäten mit Beifall belohnen oder doch widerspruchslos hinnehmen.
Ich persönlich reagiere, sicher aufgrund meiner Lebenserfahrungen, ausgesprochen allergisch auf bestimmte Begriffe, auf bestimmte Naturauffassungen, auf biologistische Metaphern (z.B. auf die Rede von der Erde als einem lebenden kollektiven Organismus), auf die Definition des Menschen (und insbesondere der Frauen) als Natur und nicht als denkende Individuen. Ich halte es für verhängnisvoll, dass derartige Begriffe und Redewendungen unabhängig von ihren historischen Wurzeln verwendet werden.
> Mich empörte, dass im Rahmen des Kongresses Frauen nur durch »New-Age-Denkerinnen« repräsentiert wurden. Die Definition der Frau als Natur wird zur Zeit offenbar weiter fortgeschrieben. In ihrem Plädoyer gegen die diesbezüglichen Zumutungen schrieb Christina Thürmer-Rohr schon 1985 in der WW: »Im ÖkoSystem-Denken ginge unsere (der Frauen, G.F.) ‘Moral‘ darin auf, das ganzheitliche ökologische Prinzip zu respektieren und nicht zu verletzen. Selbstregulative Systeme nach dem Bild der Natur sind nicht zu kritisieren, sondern bestenfalls zu verstehen«, d.h. gegen sie können Frauen nicht mehr rebellieren.
>Argwohn und Mißtrauen gegenüber diesem Kongreß hatte ich von Anfang an gehabt. Aber der Skandal war größer, als ich ihn mir vorgestellt hatte: Zwischen dem 21. und 27. Mai wurde von Politik und Wirtschaft im naturwissenschaftlich-technologischen Zeitalter ebenso wenig gesprochen wie von den Macht- und Lebensverhältnissen in jenen Ländern, an deren Welt- und Gotteserfahrung, oder was dafür gehalten wird, sich viele der feinen Damen und Herren berauschten.
Die Verhältnisse zwischen »Macht & Natur« und zwischen »Macht & Geist« waren hier kein Thema, sie konnten im dichten Nebel des Geredes über »Geist & Natur« nicht ausgemacht werden.

 

Nur zwei kleine Beispiele dafür, wie Gerda Freise noch im hohen Alter in Göttingen präsent war

Veranstaltung mit der Geschichtswerkstatt Donnerstag, 13. November 1997, 20 Uhr
"Ein ganz normales Studium in München 1939-1947" Gerda Freise beschreibt am Beispiel ihres Chemie-Studiums in München politische Handlungs- und Entscheidungsspielräume des einzelnen Menschen im Nationalsozialismus und verdeutlicht die Wichtigkeit, Subjekt des eigenen Handelns zu bleiben - auch im heutigen "parlamentarischen System". Veranstaltet von der Geschichtswerkstatt Göttingen e.V. in Kooperation mit der Galerie Apex Apex (Burgstr. 46)

Gerda Freise
Über die Notwendigkeit, einseitige Betrachtungsweisen im Israel-Palästina-Konflikt aufzugeben
Jeder politisch interessierte Mensch ist täglich mit Berichten über den Israel-Palästina-Konflikt und mit Personen bzw. Gruppen konfrontiert, die einseitig pro Israel oder pro Palästina Stellung beziehen. Mir fällt auf, dass in den Publikationsorganen, die ich täglich lese bzw. höre (GT, FR, WDR, Deutschlandfunk, Tagesthemen und heute-Journal), wenig über den kontinuierlichen Dialog zwischen israelischen und palästinensischen Friedensgruppen berichtet wird. Ich selber erhalte von meiner Freundin Janina Altmann (Haifa) seit längerer Zeit ausführliche Berichte über diese Friedensaktivitäten. Dr. Janina Altmann, eine pensionierte Chemikerin, ist eine Überlebende des Holocaust. Sie wuchs im Ghetto von Lemberg auf, verlor ihre Familie und wurde schließlich von polnischen Widerstandkämpfern in Krakau gerettet. Nicht wissend, wohin sonst, ging sie nach dem Krieg nach Israel , studierte dort, heiratete und gründete eine Familie. Janina war es, die mir den Kontakt zu einer Gruppe um Dr. Reiner & Judith Bernstein (...) vermittelte. Diese Gruppe wendet sich folgender Frage zu: Wie können Israelis, Juden und Palästinenser in Mitteleuropa den in Israel und in Palästina schon eingeschlagenen Weg unterstützen, der im Ansatz von den Friedensgruppen in Nahost bereits existiert. Darüber debattierten z.B. Gruppen aus Deutschland, Österreich, Belgien und der Schweiz auf Einladung der "Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe München". Diese Informationen veranlassen mich zu dem Versuch, auch in Göttingen einen Dialog ins Leben zu rufen, um die einseitige und unvollständige Berichterstattung zu überwinden. Die in München existierende Dialoggruppe ist bereit, derartige Versuche zu unterstützen (zum Beispiel behilflich zu sein bei der Planung von öffentlichen Veranstaltungen). Ich wende mich mit diesem Versuch an mir bekannte Gruppen (Geschichtswerkstatt, Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Jüdische Gemeinde Göttingen, Buchladen Rote Straße, Arbeitsgemeinschaft Öffentlichkeitsarbeit gegen die Kriegspolitik) und befreundete Personen mit dem Ziel, dass sie alle das Ihre dazu beitragen, die in der Öffentlichkeit vorherrschende einseitige Betrachtungsweise aufzubrechen. Göttingen, den 15.12.2002 Gerda Freise

 

Zur Würdigung Gerda Freises Beitrag zur Fachdidaktik

F. Rieß, L. Stäudel:
Gerda Freise - Mentorin der kritischen Naturwissenschaftsdidaktik

In. Päd.extra, 22.Jg., Heft 7-8/1994, S.60-63 Kritik und neue Praxis

"Es ist bemerkenswert, dass es einer fünfzigjährigen PH-Dozentin vorbehalten blieb, den ersten inhaltlichen Streit zwischen der etablierten Fachdidaktik und einer neuen, reformorientierten Generation in Schulen und Hochschulen ausgelöst zu haben. Die Studentenbewegung befand sich noch in grundsätzlichen Diskussionen zur Kritik der politischen Ökonomie, in der Analyse alternativer und antiautoritärer, utopischer Erziehungsmodelle, aber erst in den Anfängen einer Wissenschaftskritik der Naturwissenschaften. Bis diese Überlegungen griffen, hatte Gerda Freise in atemberaubendem Tempo und mit bewundernswerter Energie begonnen, ihre Konzepte zum fächerübergreifenden Unterricht, zur Projektmethode und zur Schülerzentrierung nicht nur in Zeitschriftenaufsätzen niederzulegen, sondern auch in praktischen Schulversuchen und Unterrichtsmaterialien zu verwirklichen. "