Geist
& Natur
von Gerda Freise
aus: WECHSELWIRKUNG Nr. 38., August
1988
Ernst Albrecht rief, und alle kamen. Im Mai 1988 strebte Hannover
für eine Woche ins Unermeßliche. Welt und Wirklichkeit galt es im Wandel
der Erfahrung und im Annäherungsprozeß von Philosophie, Naturwissenschaft
und Religion zu ergründen.
Wer alles an die Leine kam und wie an die
Leine gelegt wurde, beschreibt Gerda Freise, die für die WW den Kongreß
besuchte und beobachtete.
von Gerda Freise
Die schon im Sommer 1987
verschickten Vorbereitungspapiere zum Kongreß »Geist & Natur« legten
die Vermutung nahe, in Hannover sollte ein auf einem neuen Paradigma basierendes
Weltbild entwickelt werden, dem ein ganzheitliches Bild vom Menschen (entspricht),
der als geistiges Wesen Teil der Natur ist und sich mit Hilfe von Symbolen sprechend
und handelnd in der Welt bewegt, um zu überleben.
Doch Ivo Frenzel,
Pressesprecher des Kongresses. bemerkte auf der Pressekonferenz, es gehe nicht
um ein neues Weltbild, sondern darum, existierende Probleme und »vagabundierende
Zeitfragen« aufzunehmen.
Worum es tatsächlich gehen sollte, machte dann
Ernst Albrecht in seiner Eröffnungsansprache klar, als er in drei Feststellungen
sagte:
»Erstens: Philosophie und Naturwissenschaft, aber auch Religion
und Naturwissenschaft bewegen sich wieder aufeinander zu.
Zweitens: Unsere
Einstellung zur Natur und unsere Sicht des Menschen in der Natur haben
sich in den letzten Jahren tiefgreifend gewandelt. Die moderne Technik, dieses
Kind der Naturwissenschaft, hat uns gelehrt, dass wir mit
den klassischen linearen Vorstellungen von der Natur nicht auskommen, dass
wir einen Weg finden müssen. der durch das Verhältnis von Einheit
und Vielheit, Geist und Natur hindurchführen kann.
Drittens: In dem
Maße, wie die moderne Technik etwa durch Raketen oder durch die
Telekommunikation den Raum überwindet, aber auch in dem Maße,
wie eben diese Technik globale Gefährdung mit sich bringt,
wird die Welt tatsächlich versagen…, wird die Erde unbewohnbar. Wenn die
Völker der tropischen Zone bedenkenlos die Urwälder abholzen,
können sie das Klima in der gemäßigten Zone zerstören. Auch
das Ozonloch in der Antarktis zeigt uns, dass wir globale Verantwortung tragen.
... Ist es da nicht von größter. ja von friedenssichernder Bedeutung.
dass wir mehr voneinander wissen, dass wir uns tiefer verstehen,
als nur in der Anwendung moderner Technologien oder im Austausch von Waren?
Mit anderen Worten: ich meine, dass es höchste Zeit ist, dass westliche
und östliche Welt- und Gotteserfahrung sich begegnen... « (Hervorhebungen
G. Fr.).
Das alles verstärkte den Argwohn, mit dem ich nach Hannover
gefahren war, und machte gespannt: Wie würden die Voraussetzungen beschaffen
sein, um derartige Probleme hier in Angriff zu nehmen?
> Waren Vertreter
jener Völker, die Urwälder »bedenkenlos« abholzen, geladen worden, um
uns die Macht- und Lebensverhältnisse dort zu erklären?
> Waren Vertreter jener Länder (in Afrika oder Lateinamerika) unter
den Vortragenden, die uns von ihrer Einstellung zur Natur, ihrer Sicht des Menschen
und ihren religiösen Traditionen und von deren Wandel durch Kolonialismus,
Neokolonialismus oder Entwicklungshilfe berichten?
>Waren Wissenschaftler
aus beiden Machtblöcken (Nato und Warschauer-Pakt geladen, um uns über
ihre Gründe für möglicherweise kontroverse oder übereinstimmende
Standpunkte zu den genannten Problemen aufzuklären?
Nein: Neben Vertretern
verschiedener christlicher und fernöstlicher Religionen wurden ca. 60 mehr
oder weniger weltberühmte Wissenschaftler aus der westlichen Welt zusammengerufen
(Physiker, Chemiker, Neurophysiologen, Psychologen, Philosophen, Theologen ...).
Und nachdem Ernst Albrecht die Einvernehmlichkeit unseres Fühlens und
unseres Denkens festgestellt hatte, war außerdem klar: Wir würden hier
in Hannover gewiß nicht von Gorleben, von Dürrekatastrophen, von Chemieunfällen
sprechen. Wir würden vor allem nicht nach den Gründen für dergleichen
und für das »bedenkenlose« Abholzen der tropischen Regenwälder fragen,
nicht nach den Macht- und Lebensverhältnissen in diesen Weltregionen, kurzum
nicht nach den Ursachen bzw. dem »verursachenden Geist« solcher Krisen und Katastrophen,
sondern allein nach neuem Sinn und nach den Werten unseres Lebens suchen.
Und außerdem: Der Rahmen. in dem dieser Kongreß stattfand, war so
gesteckt, dass die tägliche Erfahrung in der verschmutzten Umwelt (die
Autoabgase an den Verkehrsknotenpunkten oder in der Rush-hour, der Krach von Lastautos
oder Tieffliegern, der Gestank so mancher Gewässer…) unsichtbar, unriechbar,
unhörbar, unfühlbar blieb. Diese Realität blieb draußen vor
der Tür der Stadthalle von Hannover, deren Inneres stilvoll ausgestaltet
worden war.
Zwischen Neugier des Forschers und Laune der Natur
War
nicht dem Programm, zumindest auf den ersten Blick, eine gewisse thematische und
personelle Pluralität zu bescheinigen, zumal Joseph Weizenbaum und Erwin
Chargaff als Vortragende neu hinzugekommen waren? Würde es vielleicht doch
zu einer öffentlichen Diskussion zwischen Wissenschaftlern mit unterschiedlichen
wissenschaftstheoretischen, weltanschaulichen und politischen Auffassungen kommen,
einer Diskussion beispielsweise zwischen Chargaff, Dürr, Eigen und Weizenbaum?
Doch nichts dergleichen konnte passieren (und zwar nicht nur, weil Chargaff wegen
eines Unfalls nicht kommen konnte, weil die »Regie« so etwas nicht vorgesehen
hatte und, wie ich vermute, auch überhaupt nicht wünschte.
So blieben
denn Weizenbaum und Chargaff (dieser hatte sein Manuskript geschickt, das nicht
wie zunächst angekündigt, verlesen wurde, sondern einem Pappkarton im
Foyer entnommen werden konnte und im übrigen gänzlich unerörtert
blieb) die einzigen, die die Wissenschaft selbst, ihre politische Funktion, ihre
Wirkungen auf und die Folgen für »die Natur des Menschen« zum Thema machten.
Diese beiden »Ketzer« bestreiten anhand ganz konkret benannter Tatsachen und Entwicklungen
das Wertfreiheitspostulat der Wissenschaft und betonen, dass Formulierung
und Auswahl von Forschungsfragen immer schon auf »Wert- Entscheidungen« (Weizenbaum)
basieren. Sie kritisieren auch das gültige Konzept der »Grundlagenforschung«,
das von Anfang an auf technische Auswertung, Verwertung und Industrialisierung
der Forschungsergebnisse ziele.
Beide nennen den Zustand ihrer Wissenschaft
in hohem und gefährlichem Maße »irrational« und »arrogant«, beide fordern
radikal ein Forschungsmoratorium, und beide scheinen verzweifelt zu versuchen,
eine durchgedrehte Maschine gegen den Widerstand der Mächtigen anzuhalten.
Neben ihnen der weitgehend fachimmanent argumentierende Physiker Hans Peter
Dürr. der seit einiger Zeit versucht, den Elfenbeinturm der »reinen Physik«
zu verlassen, und dessen Warnungen, Umwelt- und Friedensengagements innerhalb
der »scientific community« als äußerst lästig und anstößig
empfunden werden. Er hatte in seinem Vortrag dem Publikum die Grundzüge der
klassischen und der quantentheoretischen Wirklichkeitsinterpretationen und deren
Grenzen zu erklären versucht. Viele Zuhörer schienen begeistert zu sein.
Sie hatten vielleicht zum ersten Mal im Leben das Gefühl, im Ansatz zu kapieren,
was den Unterschied zwischen klassischer und quantentheoretischer Physik ausmacht,
als Dürr in seinem Vortrag diesen Unterschied an der »Parabel vom Netz des
Ichthiologen» und an den beiden »Weltmodellen« vom »deterministisch-atomistischen
‘Nylonseil‘ bzw. vom quantenmechanischen ‘Nylon-Halbseil’« verdeutlichte. Aber
ob sie auch behalten und verstanden haben, was Dürr entsprechend seinem Buch
»Das Netz des Physikers« noch erklärte, wage ich zu bezweifeln. dass
nämlich die geläufigen Vorstellungen eines mechanistisch-deterministischen
Verhaltens der Materie nicht ganz unbrauchbar geworden sind und für die meisten
Objekte unseres Alltags trotz quantentheoretischer Grundstruktur als extrem gute
Näherung anzusehen sind.
Viele der von Dürr in ihrer physikalischen
Bedeutung benutzten Begriffe und Metaphern (Wahrscheinlichkeit. Ganzheitlichkeit.
Unbestimmtheit, offene Zukunft. fortwährende Entfaltung des Naturgeschehens
u. dgl. mehr) sind nämlich inzwischen in die Sprache derjenigen integriert
worden, für die »Quantenphysik« zur Metapher einer quasi religiösen
Weltanschauung geworden ist, so dass sie Dürrs Vortrag möglicherweise
als »wissenschaftliche Untermauerung« eben dieser Weltanschauung auffaßten.
In seinem Vortrag »Was heißt und zu welchem Ende betreibt man Grundlagenforschung»
bekannte sich Manfred Eigen — anders als Weizenbaum, Chargaff und Dürr -
dazu, im besagten Elfenbeinturm auch weiterhin bleiben und sich wohl fühlen
zu wollen — zumal er dort offenbar eine umfangreiche Bibliothek um sich hat, wie
er durch zahlreiche Zitate von Schiller und Goethe über Karl Kraus, Brecht,
Dürrenmatt bis zu Habermas, Odo Marquard und Hermann Lübbe anzudeuten
wußte. Er plädierte für uneingeschränkte Grundlagenforschung.
Wie man weiß, ist der Gelehrte damit beschäftigt, »Die Evolution als
physikalisches Phänomen« darzustellen und das Konzept einer »evolutionären
Biotechnologie« zu entwerfen. Dazu braucht er nicht nur schöngeistige Literatur.
sondern auch »Evolutions-Maschinen«, um die technologische Nutzung des erlangten
Wissens vorzubereiten: alles gemäß dem von ihm in Hannover verkündeten
Grundsatz: Ohne die Neugier des Forschers bleiben wir »Laune der Natur«.
Einen winzigen Hinweis auf wahrscheinlich tiefgreifende Meinungsunterschiede vermittelte
ein kurzer Wortwechsel zwischen Dürr und Eigen, als sie zusammen auf dem
Podium saßen. Dürr hatte die auch in seinem Buch aufgeworfene Frage
gestellt: »Darf Grundlagenforschung auch ohne Blick auf mögliche Anwendungen
betrieben werden?« Darauf entgegnete Eigen, der ja gerade dargelegt hatte,
dass man eventuellen Mißbräuchen niemals mit einem Erkenntnisverzicht
begegnen dürfe, lächelnd: Was er, Dürr, denn erforschen wolle,
wenn nicht »Grundlagen der Physik«? Worauf dieser konterte, er halte z . B. die
Erforschung von Möglichkeiten einer Säuberung der Ostsee für derzeit
dringlicher. Doch damit war auch schon wieder Schluß des Austauschs kontroverser
Meinungen.
Wo Geist & Natur am Herzen liegt
Einer sprach
doch von Gorleben. Sich direkt an Ernst Albrecht wendend, sagte Carl-Friedrich
von Weizsäcker: »Seit ich einmal vor nun neun Jahren mit Ihnen im sogenannten
Gorleben-Hearing eine Woche lang zusammenzuarbeiten hatte, wußte ich, dass
ich Ihnen eine Bitte zu erneuter Zusammenarbeit nicht abschlagen würde, zumal
nicht über ein Thema, von dem ich schon damals wußte, dass es Ihnen
so am Herzen liegt wie das heutige Thema Geist & Natur.« Es folgt der
Vortrag des Hohepriesters der Quantenphysik. Nach einem Blick zurück auf
die »machtförmige cartesianische Naturwissenschaft« spricht er — in schwer
zu folgenden Überlegungen — über »die zentrale Theorie heutiger Physik«,
die Quantentheorie, und über »die philosophischen Konsequenzen«, die er daraus
glaubt ziehen zu dürfen. Die Quantentheorie, die man »holistisch, ganzheitlich«
nenne, weil »sie die Endgültigkeit aller Teilungen leugnet», biete die
»Denkmittel für einen spiritualistischen Monismus«. Sie sei »eine
allgemeine Theorie von Wahrscheinlichkeitsprognosen über empirisch entscheidbare
Alternativen«, sie beziehe sich also auf »Fragen, die eine angebbare Mehrzahl
von Antworten zulassen. «
An dieser Stelle schweiften meine Gedanken
ab und in die siebziger Jahre zurück. Mir kamen des Redners umfangreiche
Beiträge in der »Zeit« wieder in den Sinn, in denen von Wahrscheinlichkeitsprognosen
und -berechnungen die Rede gewesen war. Die wahrscheinliche Anzahl von Toten während
eines 50 Jahre andauernden Reaktorbetriebs wurde da errechnet und mit den konkreten
Verkehrstoten der Gegenwart verglichen. Hatte er darin nicht jahrelang die selbst
gestellte Frage »Leben mit der Kernenergie« eindeutig mit »ja« beantwortet? Offenbar
fielen ihm damals im Gegensatz zu anderen Menschen, die allerdings meist keine
Quantenphysiker waren, keine »empirisch entscheidbaren Alternativen« ein. Und
in Gedanken fragte ich mich: War wirklich nur die cartesianische Naturwissenschaft
machtförmig gewesen? Hatte nicht der Quantenphysiker von Weizsäcker
(sich auf sein Renomee als solcher und auf sein diesbezügliches Wissen berufend)
großen Anteil an der herrschenden politischen Macht?
Von »Bewußtseinswandel«
spricht der Weise jetzt viel, auch in Hannover. Doch nur in einem allgemeinen,
abstrakten, quasi kulturellem Sinn. Von einem Eingeständnis seiner damaligen
persönlichen Irrtümer und dem Bedauern falscher, teilweise zynischer
Urteile über Sachen und anders denkende Personen habe ich noch nichts gehört
und gelesen.
Auch beim anschließenden Vortrag des Philosophen Hans
Jonas war ich nicht hei der Sache Vielleicht 1ag das daran, dass es mir weder
jetzt noch früher bei der Lektüre seiner Schriften gelang zu verstehen,
auf welche Weise denn Jonas‘ philosophische Überlegungen zum »Prinzip Verantwortung«
oder zum Thema »Wertfreie Wissenschaft und Verantwortung: Selbstzensur der Forschung«
zur Praxis werden könnten.
So sehr ich seinen vielen Feststellungen
und Warnungen, insbesondere im Hinblick auf Genetik und Gentechnologie. auch zustimme,
so wenig verstehe ich, dass er »im Zweifel für die Freiheit« (der Wissenschaft)
votiert. Da stellt sich die Frage, ob so eine »Philosophie des Warnens« nicht
zu einer Alibi-Philosophie verkommt oder zumindest dazu bereits gemacht wurde.
Sie wird offenbar überall gern gehört. Auch auf der Jubiläums-Veranstaltung
»100 Jahre Höchst-Pharma» 1984, wo sie neben Ernst Winnakers Vortrag über
»Gentechnik — Erwartung und Wirklichkeit« anstandslos bestehen konnte. In Hannover
hatten Jonas‘ Überlegungen jedenfalls — soweit ich feststellen konnte - keine
Folgen. Sein Glaube. dass der Geist von einem Schöpfer in die Natur
gebracht wurde. störte und verstörte niemanden.
Gehirnforscher
auf der Suche nach dem Geist
Vielleicht können Gehirnforscher helfen,
die Beziehung zwischen «Geist & Natur» aufzuklären — so mögen die
Planer des Kongresses gedacht haben, als sie drei von ihnen einluden. Der berühmteste,
Sir John Eccles. berief sich —wie schon Hans Jonas — auf Gott. Er habe bei jahrzehntelanger
Gehirnforschung das Geheimnis des Geistes und die Entstehung des Selbstbewußtseins
nicht aufklären können und sei deshalb ein Dualist. Demgegenüber
taten die beiden anderen so, als seien sie dem Geheimnis auf der Spur, ja, hätten
es aufgeklärt.
Ernst Pöppel, Professor für medizinische Psychologie,
vertrat dabei reduktionistische Wissenschaft in Reinkultur.
Ungeniert sprach
er vom Gehirn als einer Maschine, bekannte auch, dass er, der sich als »Naturforscher«
definiert, immer daran interessiert sei, »Daten zu bekommen«.
Ideale Forschungsobjekte
scheinen Patienten in Narkose und gehirnoperierte Menschen zu sein. Jedenfalls
hat er herausbekommen, dass »in der Narkose das Zeitgefühl verschwindet«.
Äußerst wichtig war ihm, vor allem in Hinblick auf das Thema
‘Geist & Natur‘ von der Entdeckung eines universellen, für alle Sprachen
geltenden Phänomens zu berichten, demzufolge Lyriker in allen Sprachen den
Drei-Sekunden-Vers bevorzugen. Bei 200 von ihm untersuchten Gedichten habe die
durchschnittliche Versdauer 3.1 sek. betragen. Zum Beweis trug er Gedichte in
fünf verschiedenen Sprachen mit der Stoppuhr in der Hand vor — deutsch, englisch,
französisch, lateinisch, altgriechisch. Das Forschungsergebnis lege die Hypothese
nahe, dass die für Gedichte benötigten Formen durch die biologische
Ausstattung des Menschen vorgegeben sein können.
Auch hier war ich nicht
richtig bei der Sache, dachte, ich säße im absurden Theater. Aber die
besorgte Rückfrage bei einer Kollegin ergab, dass unsere Aufzeichnungen
übereinstimmten. Sie ergänzte nur, der Vortragende — offenbar ein begeisterter
Empiriker — habe auch, die Frage aufgeworfen, ob man nicht aufgrund solcher Forschungsergebnisse
annehmen müsse, dass dieser Drei-Sekunden- Takt der Struktur unseres
Zeiterlebens entspreche und daher der Kreativität des menschlichen Geistes
biologische Schranken gesetzt seien…
Danach kam Francisco Varela an die Reihe.
Er wurde bekannt durch das mit Humberto Maturana verfaßte Buch »Der Baum
der Erkenntnis«, in dem das kybernetische Modell einer »biologisch begründeten
Erkenntnistheorie« entfaltet wird und alle diejenigen Begriffe vorgestellt und
definiert werden, die sich inzwischen von ihren Urhebern abgelöst haben und
ins Vokabular der Bewegungen des Neuen Denkens integriert worden sind. Sich an
Eccles wendend, sagte Varela »Ich bin kein Dualist!« denn (?) »Wir stehen
in einer kreativen Partnerschaft zur Natur«. Er wolle ergründen, wie
der »ganzheitliche Prozeß des Verstehens ablaufe, wie jedes einzelne
Lebewesen Selbstbewußtsein« herstelle. Seine Erkenntnisse gewinnt er
dabei genau wie Pöppel aus »Labor-Experimenten« an neurochirurgischen Patienten.
Und als Ergebnisse der »wissenschaftlichen Untersuchung der Erkenntnis als biologisches
Phänomen» formuliert er Sätze, die ich vielleicht vor ca. 60 Jahren
schon mal gelesen habe: In den Erbauungs-Traktaten, die mir meine fromme Großmutter
gab, stand auch, dass es ohne Liebe und Achtung vor dem Nächsten nicht
gehe. Diese alten Traktate sind mir aber lieber, denn deren Verfasser kamen ohne
vorherige Menschenversuche auf ihre Sprüche.
Frauen, Geist
und Natur
Ich schätze, dass der Kongreß etwa zur Hälfte
von Frauen besucht wurde. Im Programm fand ich die Namen von vier Frauen und 59
Männern als Vortragende. Die Frage nach dem Grund für ein solches Planungsergebnis
war auf der Pressekonferenz zu erwarten. Die Antwort: Man habe das »zu spät
bemerkt«, und alle Versuche, doch noch einige Frauen für Vorträge zu
gewinnen, seien leider, leider fehlgeschlagen.
Ich war neugierig auf Carolyn
Merchant. deren wissenschaftshistorisches Buch »Der Tod der Natur« mich interessiert
hatte, und auf Hazel Henderson, deren Buch »Das Ende der Ökonomie« ich ebenfalls,
und ohne Verständnis für manch positive Pressereaktion, gelesen hatte.
Carolyn Merchant plädierte für eine »ökozentrische (Kosmos-)
Ethik« und entwickelte ihre öko-systemtheoretischen Vorstellungen mit vielen
bekannten Argumenten: Die Erde sei ein lebender kollektiver Organismus, in dem
der Mensch Teil des Systems sei. Daraus müsse sich auch sein Verhalten bestimmen.
Jeden Tag müsse er überprüfen, ob er im Sinne der ökologischen
Ethik handele.
Carolyn Merchant hofft auf die Erfolge von Projektgruppen.
die an der »Wiederherstellung der Natur« arbeiten und auf die Durchsetzung von
»Agro-Okologie«. Sie nannte ein Projekt zur Wiederherstellung einer Prärie
in ihrer ursprünglichen Form. Am meisten aber hofft sie auf die öko-feministische
Bewegung, denn: «Frauen sehen sich selbst als Natur«. Ach hätte sie
doch, dachte ich, Hedwig Dohms vor mehr als 100 Jahren erschienene Streitschrift
»Die wissenschaftliche Emanzipation der Frau« oder Simone de Beauvoirs Werk »Das
andere Geschlecht« gelesen, dann wüßte sie, dass »die Biologie
nicht (ausreicht), um uns die Antwort auf die uns beschäftigende Frage zu
geben« (Beauvoir).
Selbstbewußt und lässig ging danach Hazel
Henderson mit dem Vokabular der Quanten- und Evolutionstheorie von Heisenberg
bis Prigogine um. »Wir entdecken«, sagte sie ganz im Stil ihres Buches,
»Die neue Weltordnung in der Wissenschaft«, »und erinnern uns, dass wir..
.die selben fünf Prinzipien (Verbundenheit, Umverteilung, Veränderung,
Komplementarität und Unbestimmtheit, G.F.) (auch) in allen religiösen
und spirituellen Traditionen finden«.
Auch sie sprach, ich hörte es
zum x-ten Mal, von der gesamten Biospäre als einem einzigen lebenden Organismus.
Emphatisch proklamierte sie zwecks schneller Lösung aller Probleme die »globale
Vernetzung« von allem mit allem (wie im Bankwesen ja bereits geschehen). Dazu
sei allerdings die Entwicklung eines »spirituellen Bewußtseins« aller Menschen
nötig. Sie meinte auch, jeder müsse innerhalb dieses Globalsystems für
sich selbst ein »Sicherheitskonzept« entwickeln und Vorsorge betreiben, denn z.B.
könne ja der Arbeitsplatz verloren gehen. Neckisch bezog sie das Publikum
ein, indem sie fragte, wer denn von den hier Anwesenden schon an so ein Konzept
gedacht habe.
Die einzig vernünftige Entgegnung auf dieses Gerede hörte
ich von Martin Jay, Historiker und Verfasser einer Arbeit über die Geschichte
der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialgeschichte. Im Gefolge
solcher Globalisierungstendenzen würden bestehende Abhängigkeiten und
Ungleichheiten größer, zumal ja ein immenses Kontrollsystem zu entwickeln
sei. Aber, wie nicht anders zu erwarten: Eine Diskussion fand danach nicht statt.
Neues und altes Denken
Nachdem ich an diesem Tage auch noch
den New-Age-Publizisten Peter Russell hatte sagen hören, dass die moderne
Gesellschaft aus dem Manhattan-Projekt lernen könne, wie effektiv, schnell,
sicher und vorteilhaft es sei, ein gemeinsam gestecktes Ziel durch ganzheitliche,
Institute übergreifende Zusammenarbeit zu erreichen, hatte ich endgültig
genug vom »Neuen Denken« und dem ihm anhaftenden Zynismus. Also Schluß damit
und hin zum »alten Denken« des berühmten Sir Charles Popper, dem einzigen,
dem es während der Abschlußveranstaltung gelang, ein dumpfes Grollen
im Saal hervorzurufen: Sein »Umriß einer Weltansicht«, von ihm selbst »Appell
eines Optimisten an die Intellektuellen« genannt und als »Anklage an alle modischen
Pessimisten« gerichtet, gipfelte immer wieder in Sätzen, bei denen mir der
Atem stockte: »Die Bombe mußte eingesetzt werden, um wieder Hoffnung
in die Welt zu bringen«. Sie habe fast alle Politiker zu Pazifisten
gemacht. Jetzt leben wir »in einer Welt ohne Sklaven«, alles bewege sich in eine
bessere Richtung, die Entwicklungsländer seien für sich selbst verantwortlich.
Der Mythos von der schlechten Welt sei von den Medien verbreitet worden. Auch
Popper sprach von »Evolution«, die unter dem Zeichen von mehr Freiheit, mehr Wissen
und weniger Schrecken stehe. Diejenigen, die hier »grölten«, seien wie die
Leute vom KluKlux-Klan, die alles Gute zerstören wollen.
Carl-Friedrich
von Weizsäcker ging auf Popper ein: Er finde die Reaktionen des Publikums
begreiflich, aber er »bewundere« auch »Sir Charles Poppers Mut, dass
er das sagte, was er sagte. « »Poppers moralischer Anspruch« sei
so groß, dass er »oft falsche Meinungen äußert«
— sagte von Weizsäcker. Das verstehe wer will.
Mein Resumee
Ich denke, dass auf diesem Kongreß nichts passierte, was nicht
in der Absicht der Veranstalter lag: Weder die Randexistenz der wenigen kritischen
Wissenschaftler noch die irrationale Verwendung naturwissenschaftlicher Konzepte
für die Zwecke des »Neuen Denkens« noch der massenhafte und phrasenhafte
und gleichzeitig abstrakte, die Wirklichkeit nicht berührende Gebrauch bestimmter
Begrif1 und Metaphern noch Sir Charles Poppers reaktionärer Aufruf lassen
sich als Merkmale eines »sich selbst organisierenden Systems fern vom Gleichgewicht«
interpretieren. Denn alles war ein gut inszeniertes
Politisches Theater.
Eine Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften, mit ihren Problemen,
mit ihren Verwertungsaspekten und der Kritik daran konnte und sollte im Rahmen
des Kongresses nicht stattfinden. Die »Annäherung« von Philosophie, Naturwissenschaft
und Religion sollte beschwichtigen, sollte das Weiterleben mit allen Unzumutbarkeiten
erträglicher erscheinen lassen.
Manch berühmter Wissenschaftler
versuchte in Hannover, sich »allgemeingültige«, «Welt interpretierende Erklärungen«
zurechtzubasteln und einen ideologischen Uberbau zu formulieren. Geradezu phantastisch
mutet dabei an, mit welchen Banalitäten sie sich dabei zufrieden geben, mit
welcher Eitelkeit sie diese zum besten geben und mit welchen Leuten als Claque
sie sich einlassen. Ebenso phantastisch ist, dass weit mehr als 1000 Menschen
aus »gebildeten Kreisen« solche Banalitäten mit Beifall belohnen oder doch
widerspruchslos hinnehmen.
Ich persönlich reagiere, sicher aufgrund
meiner Lebenserfahrungen, ausgesprochen allergisch auf bestimmte Begriffe, auf
bestimmte Naturauffassungen, auf biologistische Metaphern (z.B. auf die Rede von
der Erde als einem lebenden kollektiven Organismus), auf die Definition des Menschen
(und insbesondere der Frauen) als Natur und nicht als denkende Individuen. Ich
halte es für verhängnisvoll, dass derartige Begriffe und Redewendungen
unabhängig von ihren historischen Wurzeln verwendet werden.
> Mich
empörte, dass im Rahmen des Kongresses Frauen nur durch »New-Age-Denkerinnen«
repräsentiert wurden. Die Definition der Frau als Natur wird zur Zeit offenbar
weiter fortgeschrieben. In ihrem Plädoyer gegen die diesbezüglichen
Zumutungen schrieb Christina Thürmer-Rohr schon 1985 in der WW: »Im
ÖkoSystem-Denken ginge unsere (der Frauen, G.F.) ‘Moral‘ darin auf, das
ganzheitliche ökologische Prinzip zu respektieren und nicht zu verletzen.
Selbstregulative Systeme nach dem Bild der Natur sind nicht zu kritisieren, sondern
bestenfalls zu verstehen«, d.h. gegen sie können Frauen nicht mehr rebellieren.
>Argwohn und Mißtrauen gegenüber diesem Kongreß hatte
ich von Anfang an gehabt. Aber der Skandal war größer, als ich ihn
mir vorgestellt hatte: Zwischen dem 21. und 27. Mai wurde von Politik und Wirtschaft
im naturwissenschaftlich-technologischen Zeitalter ebenso wenig gesprochen wie
von den Macht- und Lebensverhältnissen in jenen Ländern, an deren Welt-
und Gotteserfahrung, oder was dafür gehalten wird, sich viele der feinen
Damen und Herren berauschten.
Die Verhältnisse zwischen »Macht &
Natur« und zwischen »Macht & Geist« waren hier kein Thema, sie konnten im
dichten Nebel des Geredes über »Geist & Natur« nicht ausgemacht werden.