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Film: Villa Amalia

Europäisches Filmfestival 2010

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Villa Amalia,
Frankreich 2008
Länge: 91 Min.,
Peripher Filmverleih,
Start: 25.11.2010
Regie: Benoît Jacqout
Buchvorlage: Pascal Quignard
Kamera: Caroline Champetier
Musik: Bruno Coulais
Hauptdarstellerin Isabelle Huppert

Foto: Titelblatt der Programmbroschüre und Plakat des Europäischen Filmfestivals

Filmkritik / (goest)

Die Rahmenhandlung kurz und bündig: Frau gibt Beziehung auf, krempelt ihr Leben total um, bricht Brücken ab, gibt ihre Wohnung auf, wirft allen Kram auf den Müll, verlässt ihre Stadt und haut ab. Irgendwann landet sie in Italien auf Iscia in einer alten Villa am Meer. Von dort baut sie sich langsam wieder auf.

Destruktion ... Rekonstruktion **
Ihr Bruch mit dem bisherigen Leben und die Flucht daraus sind begleitet von Wegwerfaktionen aller Art. Auch danach neu Gekauftes wird auch schnell wieder weggeworfen und ausgetauscht.
Die Wohnung wird aufgelöst, die Kleider in den Müll, Fotos verbrannt, das Handy in die Toilette. Sie produziert jede Menge Müll und es ist wie ein mehrfacher Häutungsprozess, ein Herausschälen aus dem falschen Sein.
Ann (Isabelle Huppert ) versucht alle Gegenständen loszuwerden, Umstände, Umgebungen, Tätigeiten und Beziehungen aufzugeben, denen ein Teil ihres bisherigen Lebens "anhaftet", die Erinnerung ausströmen. Sie dekonstruiert die Struktur in der sie bisher aufgehoben war, die, wie sie wohl intuitiv erkennt, falsch war.
Kann man alles aufgeben? Alles? Wenn man alles weggäbe, so bliebe doch der Mensch selbst übrig, der alles äußere weggegeben hat und er selbst ist der erinnerungshaltige "Gegenstand", den er schließlich nicht wegwerfen kann, es sei denn sein Leben wäre beendet. In ihm ist die Geschichte auch enthalten, deren er sich durch die Weggabe der Gegenstände entledigen will. Er ist Produkt seiner Vergangenheit. Das Ablegen, das Wegwerfen der äußeren Struktur ist also zunächst nur ein erster Schritt der Befreiung, Häutung, Freiheit schaffen für den nächsten Schritt: die Dekonstruktion und Rekonstruktion der inneren Struktur die letztlich Voraussetzung für Handlungsfähigkeit und Subjektsein darstellt.

Der Bruch beginnt damit, dass Ann ihren Mann nachts beim Austausch von Zärtlichkeiten mit einer Geliebten auf einem Balkon eines fremden Hauses beobachtet. Unplausibel scheint in der Handlung des Films zunächst, dass eine Beziehung, die offensichtlich nie eine tiefe Liebe war, derart tiefe Verletzungen erzeugen kann, dass so grundlegende Veränderungen des Lebens erforderlich sind, um das Ereignis zu verarbeiten.
Doch später wird deutlich, dass die Verletzung durch die Untreue des Mannes nur den Blick frei machte auf tiefer liegende Schichten von Verletzungen aus der Vergangenheit. Nachdem das Konstrukt ihres Alltags aufgerissen wurde, sieht sie durch diesen Riss die Bodenlosigkeit ihrer Gefühle. Am Grund befindet sich die Verletzung, die ihr der Vater durch sein Verschwinden in früher Kindheit zugefügt hat. Musik verband sie gefühlsmäßig mit dem verschwundenen Vater. Ihre Beschäftigung als Konzertpianistin, das Komponieren war die dünne Oberfläche, die ihr Leben trug., Aber plötzlich trug die Musik diese Verbindung nicht mehr. Das Aufreissen der Oberfläche ihres falschen Lebens führt sie in die Tiefe der Vergangenheit zurück. Erst dadurch wird die impulsive Radikalität und Wut verständlich mit der sie nun ihr Leben ändert. Sie scheint zunächst den Grund dafür selbst nicht zu begreifen und folgt Impulsen, denen sie nicht widerstehen kann. Während eines öffentlichen Klavierkonzerts z.B. springt sie plötzlich während des Spiels auf verlässt Instrument und Bühne und gibt das Konzertieren von nun an auf. Sie verlässt die Sackgasse in der ihr Leben geraten ist. Die Musik begleitete als Filmmusik die Entwicklung, zunächst Klavierstücke, kalt abstrakt, gefühllos unterkühlt und dann später auf dem Wege der Selbstfindung und Rekonstruktion in Italien begleitet sie Musik mit barockem Touch.

Villa Amalia ist das Haus am Meer (>Foto) in dem sie plötzlich zur Ruhe kommt nach der Loslösung aus ihrem alten Leben. Dieses Haus hatte ein anderer Vater für eine geliebte Tochter gebaut. In dieses Haus will sie ziehen. Dieses Haus ist das Symbol des Filmes für die Liebe des Vaters, die der Tochter gefehlt hat. Dort gesundet sie. Konsequenterweise taucht am Ende der Vater auf, bei der Beerdigung ihrer Mutter zu der sie zurück nach Frankreich reisen muss. Ann ist nun als "neuer Mensch" konfrontiert mit dem Vater als Ursache für ihr zu lange kalt gelebtes Leben. Sie konfrontiert ihn mit etwas Neuem: sie steht am Aufzug dem Vater gegenüber und streicht dem Vater für eine Sekunde mit der Hand über die Wange - er erschrickt darüber , schaut erschrocken und erstaunt während die Aufzugstür zugeht und beide trennt. Das war es was gefehlt hat. Sie schließt auch mit dem Vater ab nachdem sie durch die Entwicklung quasi innerlich geheilt wurde. Sie kann nun der Zuneigung zu ihrem Jugendfreund nachgehen, ohne sich zu zergrübeln was aus ihrem Leben werden soll.

Günter Schäfer Nov. 2010

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Sowohl der Regisseur Benoît Jacquot, als auch der Buchautor des zugrundeliegenden Romans, von Pascal Quignard und schließlich die Hauptdarstellerin Isabelle Huppert sind jede/r für sich Stars. Auch der Komponist der Filmmusik Bruno Coulais hat z.B. für seine Musik zu dem Film "Die Kinder des Monsieurs Mathieu" eine Oscar-Nominierung bekommen. Alle zwischen 1947 und 1955 geboren ...

** Zu Dekonstruktion vgl. >Derrida

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