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Ian Kersaw beim Literaturherbst in Göttingen 2000
"Es ist des Führers Wunsch" galt als Befehl

(Von Ulrich Kurzer, freier Journalist in Göttingen für GOEST)

Mit dem soeben in deutscher Übersetzung erschienenen zweiten Band seiner Hitler-Biographie hat der britische Historiker Ian Kershaw ein Projekt abgeschlossen, in dem auf mehr als 2000 Seiten zehn Jahre Arbeit vergegenständlicht sind. Vor der Rückkehr nach England stellte er am Sonntag den 22. Oktober nach der Präsentation seines neuen Buchs auf der Frankfurter Buchmesse sein Werk auch auf einer von Hanjo Kesting (Norddeutscher Rundfunk) moderierten Veranstaltung im Rahmen des neunten Göttinger Literaturherbstes in Göttingen vor.
Kershaw hob hervor, dass die Frage nach dem "Wie" oft besser und hilfreicher sei, als die Frage nach dem "Warum". Wie ist etwas passiert, wie war Hitler möglich?, das herauszuarbeiten, bezeichnete er als Ziel seines Buches, das den Zeitraum von 1936 bis 1945 behandelt, also genau die Jahre, in denen Hitler zuerst den Höhepunkt seiner Macht erklimmen konnte, ehe die deutsche Gesellschaft dann ernten mußte, was sie selbst gesät hatte. Und auch heute noch kann sie sich - so Kershaw abschließend - immer noch nicht von Hitler befreien.
Kershaw betonte, dass es ihm nicht um eine Personalisierung bei der Frage nach dem "Wie" geht. Wesentliche Teile der Gesellschaft waren Komplizen bei der Umsetzung von Hitlers ideologischen Zielen und diese standen nicht im Widerspruch zu den Zielen der gesellschaftlichen Eliten! Hier, in diesen Kreisen, wurde "dem Führer" in vielfältiger Weise "entgegen gearbeitet". Es brauchte nicht ausdrücklicher Anweisungen Hitlers. Seine ideologischen Zielvorstellungen waren bekannt und wurden relativ selbständig umgesetzt. Wahrscheinlich gab Hitler anstelle von Befehlen eine Reihe von Ermächtigungen, die von seinen "Mitarbeitern" dann in konkrete Weisungen umgesetzt wurden. "Es ist des Führers Wunsch" galt als Befehl! Kershaw verwies in diesem Zusammenhang auf die schon lange bekannte Abneigung Hitlers gegen Bürokratie und schriftliche (Akten-)Notizen. In die Bevölkerung hinein war der Führer-Mythos das entscheidende Scharnier, hier wurde beispielsweise erheblich mehr und häufiger denunziert, als lange angenommen worden ist. Der britische Historiker scheut sich nicht, Hitler zu historisieren, ihn also in den Ablauf und die Zusammenhänge des historischen Prozesses "einzubinden". Allerdings nimmt er Hitler damit nicht das Singuläre. Nur über den Vergleich mit anderen Faschismen, aber auch mit dem Stalinismus, sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede diktatorischer Regime festzustellen. Die Frage nach Hitlers Rolle und persönlicher Verantwortung im "Dritten Reich" beantwortete Kershaw zum einen damit, dass ein völkisches Milieu in Deutschland schon vor Hitler existierte, der Nationalsozialismus auch ohne ihn möglich gewesen wäre. Allerdings: ohne Hitler wäre der Nationalsozialismus in Deutschland nicht zur Macht gelangt, Hitler war unerläßlich für den "Erfolg" des Nationalsozialismus, die Politik aber wurde nicht von diesem Mann allein gestaltet.
Desweiteren scheut Kershaw sich nicht, auch "Glück", "Pech" und "Zufall" in seiner Darstellung zu thematisieren. Hitler habe beim Attentat Georg Elsners im Münchener Bürgerbräukeller 1939 einfach "Glück" gehabt, dass er von der Bombe nicht verletzt oder getötet wurde, weil er seine Rede früher beendet hatte, als zu erwarten gewesen war. Gleiches gilt für das Stauffenberg-Attentat 1944, es sei wirklich "Pech" gewesen, dass "der Führer" auch hier "Glück" hatte und lediglich mit "zerfetzten Unterhosen" davongekommen war. Die kontrafaktische Frage, was bei einem Erfolg beider Attentate anders geworden wäre, beantwortete Kershaw für den November 1939 mit einer denkbaren Reichskanzlerschaft Görings, der zwar brutal, aber pragmatischer war als Hitler, weshalb es möglicherweise nicht zu der Fortsetzung des Krieges in Europa gekommen wäre. Ohne Zweifel hätten aber Göring und die deutsche Militärführung eine Großmachtstellung angestrebt. Ein erfolgreiches Attentat im Juli 1944 hätte wohl für eine gewisse Zeit zu einer Miltärdiktatur geführt. Jenseits solcher Spekulationen erinnerte Kershaw noch einmal an Gewißheiten wie die, dass Hitlers Stärke mit der Schwäche seiner Gegner korrespondierte, so etwa 1938, als der britische Premier Neville Chamberlain Hitler bei der Münchener Konferenz "erlegen" war, er glaubte sich auf Hitlers Wort verlassen zu können. Die Appeasementpolitik der Wertmächte hatte Hitler stabilisiert und die deutsche Opposition gegen Hitler fühlte sich zurecht von der britischen Regierung im Stich gelassen.

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